Tief durchatmen in den Abgasen
Es ist einer dieser sehr frühen Sommertage. Und alle, die das können, gehen schon am Nachmittag in den Feierabend. Autofahrer steigen auf ihre Töffs um und zeigen auf den verstopften Strassen der Stadt, dass sie als Einzige noch durchkommen. So wird die zentrumsnahe Ausfallstrasse zur Kampfzone. Die einen dürstet es nach einem grossen Weizen, andere nach einer Verkehrsrevolution.
Hinter dem Platz mit der Tramhaltestelle geht die Strasse geradeaus weiter und wird dann zur Brücke. Noch bevor sich die Fahrbahnen auf Stelzen über die beiden städtischen Flüsse erheben, hat es rechterhand eine weitere Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. Gerade steht dort ein Bus mit verschlossenen Türen. Menschen steigen keine ein oder aus, der Busfahrer wartet wohl darauf, dass seine Abfahrtszeit kommt. Mehrere, die mit dem Velo unterwegs sind, überholen ihn, auch ich. Direkt nach der Haltestelle beginnt rechterhand auf dem Trottoir der Veloweg über die Brücke. Man teilt sich den von der Fahrbahn abgesetzten und erhöhten Weg mit den Fussgänger*innen. So ist der sogenannte Langsamverkehr vor dem Schnellverkehr geschützt. Nun aber ist es nicht möglich, mit dem Velo auf den Veloweg zu gelangen, denn ein abgestellter Lieferwagen steht im Weg und der Randstein ist zu hoch. Wir Velofahrer*innen bleiben in dem Moment also notgedrungen auf der Strasse.
Von den zwei Spuren, die stadtauswärts über die Brücke führen, biegt an deren Ende bei der Kreuzung mit Lichtsignal eine rechts ab, sie führt zu einem Tunnel und schliesslich auf die Autobahn. Entsprechend viele Lastwagen fahren hier entlang. Die linke Spur führt ab der Kreuzung geradeaus hoch. Die muss ich nehmen, um nach Hause zu kommen. Aber es bildet sich immer wieder eine Kolonne, sodass ich – ungeduldig und genervt vom permanenten Gedröhne und den Abgasen – auf die rechte Spur wechsle, wenn dort gerade keine*r fährt. Sobald der Verkehr links wieder rollt und die Autos und Töffs davonbrausen, wechsle ich zurück. Nach der Kreuzung mit dem Lichtsignal werde ich endlich auf den Veloweg wechseln können. Als ich schon darauf zufahre, schaltet meine Ampel auf Grün und ich werde wohl nicht einmal abbremsen müssen. In Gedanken stehe ich bereits zuhause unter der Dusche. Da überholt mich von rechts mit einem tiefen Brumm-Ton eine Harley-ähnliche Maschine. Der Fahrer sitzt bequem im Sattel. Er schaut zu mir herüber, und als sich unsere Blicke treffen, ruft er: «Da auf dem Trottoir hätte es im Fall einen Veloweg gehabt! Einfach nur zum Sagen!»
Der zweite Satz dröhnt in meinen Ohren: Einfach nur zum Sagen. Ich möchte ihm sagen, dass der Veloweg nicht erreichbar war, dass da ein Lieferwagen stand. Dass mein Verbleiben auf der Fahrbahn unfreiwillig war. Ich rufe also in seine Richtung: «Da versperrte ein …» Aber sein Motorenlärm verschluckt meine Worte, er biegt ab und ich sehe nur noch seinen Rücken. Jetzt möchte ich trotzig aufstampfen, wie ein Kind, das nicht ernst genommen wird. Zum Glück hält mich trotz Hitze und Emotionen ein Rest Vernunft davon ab, ihm zu folgen. Bloss der Mund ist schneller. Inbrünstig brülle ich: «Arschloch, du!» Kaum ist es raus und bin ich wieder ruhiger, sehe ich, dass von den Fussgänger*innen, die am nahen Lichtsignal warten, einige in meine Richtung schauen. Vermutlich haben sie uns gesehen und verstanden (nur nicht, dass der Veloweg versperrt war).
Dann winkt jemand. Meint die Person mich? Gerne würde ich mich wegducken. Ich blinzle und erkenne eine Frau, mit der ich vor ein paar Monaten einen Kurs besucht habe. Sie heisst Rita. Wir und ein Dutzend andere übten einen Winter lang gewaltfreie Kommunikation. Hat bei mir ja viel bewirkt, denke ich und will zu ihr hin, ich sehe uns schon zusammen über meine Unfähigkeit, Ruhe zu bewahren, lachen. Ohne aufzupassen, ziehe ich meinen Lenker nach rechts und sehe dabei den Lastwagen gar nicht, der von hinten aufgeschlossen hat. Zum Glück war die Ampel schon auf Orange gesprungen. Hinter mir bremsen alle, und ich bremse auch. Selten war tiefes Durchatmen inmitten von Abgasen und Motorenlärm und Scham so erleichternd. Von jetzt an werde ich auf der Ausfallstrasse keinen stehenden Bus mehr überholen. Und primitiv fluchen gibts nur noch hinter einer Scheibe oder einem Visier.