Die Macherin

Als sie in Graubünden kein Strassenfussballteam fand, gründete Habiba Khalili kurzerhand selber eines. Heute trainiert die 23-Jährige den FC Surprise Chur und pfeift als Schiedsrichterin Junior*innenspiele. Von einer, die sich so schnell nicht aufhalten lässt.

13.06.2025TEXT: NATALIA WIDLA, FOTOS DÉSIRÉE GOOD

In der Halle des Schulhauses Daleu nicht weit vom Bahnhof Chur trainiert auch an diesem Freitagabend der Strassenfussballclub FC Surprise Chur. Obwohl das offizielle Training erst nach 20 Uhr beginnt, sind drei junge Männer schon früher da und kicken kraftvolle Schüsse auf das an die Wand gemalte Tor. «Unser Goalie muss noch etwas üben, weil er noch nicht so lange dabei ist», sagt Habiba Khalili, deshalb seien die drei schon früher gekommen. Und weil es im Strassenfussball oft zu unerwarteten Positionswechseln kommt, übt der Goalie jetzt auf Torschüsse. Am Tag darauf spielt das Team ein Strassenfussballturnier in Zürich, das zweite der aktuellen Saison. Wirklich nervös wirkt hier aber niemand, eher freudig, ausgelassen.

Als Habiba Khalili die kleine Sporthalle betritt, ist sofort klar, dass sie ein unersetzlicher Teil dieses Teams ist. Die drei Männer pausieren ihr Training, begrüssen Khalili, fragen, wie sie bei der Vorbereitung der Aufwärmübungen helfen können. Nach und nach treffen auch die anderen Teammitglieder ein, klatschen einander ab, ziehen sich mit Anekdoten auf oder sprechen über die Arbeit. Khalili fängt derweil an, kleine Hütchen in einem Slalom auf dem Boden zu verteilen. Auch wenn die 23-Jährige das selbst vermutlich nicht so unterschreiben würde: Der FC Surprise Chur ist in gewisser Art und Weise Habiba Khalilis Club. Sie hatte die Idee, sie hat Anfang Jahr die Initiative ergriffen und den Verein gegründet. «Eigentlich spiele ich in der Verteidigung, aber manchmal bin ich plötzlich auch im Sturm», sagt Khalili.

Eine offizielle Trainerin hat der erste und bisher einzige Bündner Strassen­fussballclub nicht – Khalili ist als erfahrenste Spielerin diejenige, die anleitet, vormacht, organisiert. Und wenn sie etwas erklärt, hören die anderen zu. Auf die Frage hin, ob sie hier das Sagen hätte, lächelt Khalili nur verlegen. «Nein, wir sind alle Freunde, ich spiele einfach schon am längsten Strassenfussball.» Manchmal fliegt ein ungeplanter Ball quer durch die Halle, jemand macht einen Witz, es wird viel gelacht. Doch als Khalili mit den Aufwärmübungen anfängt, richten sich wieder alle Augen auf sie. Konzentriert dribbelt sie durch einen kleinen Parcours, führt den Ball eng an ihrem Fuss, sagt zwischendurch die nächste Übung an und verfolgt zugleich den Fortschritt ihrer Teamkolleg*innen. Diese stille Autorität, die Khalili bei ihren Teamkollegen geniesst – bis auf ihre Schwester und sie sind es momentan allesamt Männer –, kommt nicht von irgendwoher: Sie ist eine begabte und passionierte Fussballerin. Wenn Khalili am Ball ist, vergisst sie das Drumherum – sprintet, übt Tricks, zeigt ihr Können. Dass ihr das eines Tages in dieser Form möglich sein würde, schien lange undenkbar.

Als Kind durfte sie noch mit den Jungs kicken

Habiba Khalili kam im afghanischen Herat als das mittlere von fünf Kindern zur Welt. Als sie ein Jahr alt ist, flieht die Familie aufgrund der politischen Unsicherheit nach Teheran. «Im Iran waren wir Bürger*innen zweiter Klasse», erinnert sich Khalili. «Wir hatten keine Papiere und wir Kinder durften nur die Grundschule besuchen.» Die systematische Bildungsbenachteiligung, die politische und gesellschaftliche Ausgrenzung afghanischer Menschen im Iran ist gut dokumentiert. Die Familie schlägt sich durch, Habibas Vater arbeitet in der Landwirtschaft, die Mutter zieht die Kinder gross.

Schon früh interessiert sich Khalili für Sport. Sie beginnt mit Handball, entdeckt aber schnell ihre Freude am Fussball. «Als ich acht oder neun war, durfte ich noch mit den Jungs kicken – aber das ging bald nicht mehr. Vor allem nicht im Verein.» Iranische Frauen durften zwar im Hijab auch in Vereinen spielen und an offiziellen Spielen teilnehmen, erklärt Khalili, «als Afghanin ohne Papiere war mir das verboten.» Also verfolgt sie den Fussball vor allem vor dem Bildschirm. Bis heute ist sie Fan von Real Madrid. «Ich weiss, letzte Saison lief’s nicht so gut.» Der Club hat eine durchwachsene Saison 24/25 hinter sich; auf die vielen Siege kamen auch bittere Niederlagen – Habiba hält trotzdem zu ihrem Lieblingsverein.

Als die afghanische Minderheit im Iran mehr und mehr diskriminiert und entrechtet wird, beschliesst die Familie 2021 – Habiba ist da 19 Jahre alt –, das Land zu verlassen. Habiba ist von den Kindern die Älteste, als sie mit ihren Eltern, ihrer Schwester Masuma, 16, und ihrem Bruder Abul, 14, aufbricht; ihre zwei älteren Brüder leben bereits in Skandinavien.

Die Flucht dauert zweieinhalb Jahre. Sie führt über die Türkei und die griechische Insel Lesbos, dann nach Tripoli. Den grössten Teil der Zeit verbringt die Familie aber in einem Camp auf Lesbos. Die Ausfertigung der Papiere dauert, Khalilis Vater bekommt schwere Rückenschmerzen. Sie entscheidet, die beiden jüngsten Geschwister allein weiterreisen zu lassen. Es fällt Khalili schwer, ihre Geschwister gehen zu lassen. «Aber in Lesbos konnten sie nichts lernen. Es gab keine Schule, keine Perspektive – das wäre nur verlorene Zeit gewesen.»

Sie selbst bleibt als älteste Tochter zurück, kümmert sich um den kranken Vater, lernt Englisch und arbeitet als Übersetzerin im Camp. «Ich musste etwas tun – sonst wartet man ja nur.»

Nach ihrer Ankunft in der Schweiz wird die Familie wiedervereint und wohnt zuerst in St. Gallen, dann in Chur. Später finden die Eltern eine Wohnung in Thusis. Khalili zieht 2024 in eine eigene Wohnung nach Bonaduz, das liegt näher von Rhäzüns, wo sie in einem Architekturbüro Hochbauzeichnerin lernt.

Hartes Training für eine einmalige Gelegenheit

Im Deutschkurs hört Khalili zum ersten Mal vom Surprise Strassen­fussball. Die Schwester einer Klassenkameradin spielt im Frauenteam in Basel. «Sie sagte: ‹Wenn du Fussball magst, mach mit!›» Die kommenden Monate fährt Khalili mit ihrer Schwester ein- bis zweimal im Monat nach Basel ins Training, spielt erste Turniere und nimmt 2024 mit dem Surprise Frauennationalteam am Homeless World Cup in Seoul teil. Zur Vorbereitung trainiert sie – weil es in der Nähe kein Strassenfussballteam gibt – beim FC Untervaz.

In Seoul beeindrucken sie die Teams aus den USA, Mexiko und Australien. «Ich konnte mir einiges abschauen – wie sie miteinander kommunizieren, ihr Feld schützen, ihre Ressourcen aufteilen.» Beim ersten Spiel tritt ihr andere Spielerin auf den Fuss, eine Sehne reisst, der Nagel löst sich. Trotzdem spielt Khalili weiter, bandagiert den Fuss vor jedem Spiel neu. «Ich dachte gar nicht daran aufzugeben, schliesslich hatte ich diese unglaubliche Möglichkeit, und dann ziehe ich das auch durch.» Nach ihrer Rückkehr nach Graubünden steht für Khalili fest: Sie will ein eigenes Team gründen. «Zum einen war es natürlich etwas mühsam, ständig nach Basel zu fahren, zum anderen fragte ich mich: Warum gibt es hier kein Team? In Glarus gibt es eins, warum nicht auch bei uns?» Sie bespricht ihre Idee mit den Verantwortlichen für den Surprise Strassenfussball in Basel. Surprise mietet eine Halle in Chur an und Khalili beginnt mit der Rekrutierung von Spieler*innen. «Zuerst fragte ich meine Freundinnen in der Berufsschule – aber die hatten kein Interesse. Dann fragte ich meine Geschwister und deren Freund*innen. So wurden wir immer mehr.»

Wer kam, brachte neue Leute mit. Anfangs seien manche skeptisch gewesen: «Die wollten lieber traditionellen Fussball spielen, viele verstanden nicht, dass es beim Strassenfussball andere Regeln gibt.» Das Feld ist kleiner, die Tore ebenso, die Spielzeiten sind kürzer und es gelten spezielle Strafraumregeln (siehe Infografik S. 14/15). Dafür werden pro Turnier gleich mehrere Spiele gespielt. Khalili sagt: «Ich ziehe Strassenfussball dem klassischen Fussball vor.» Man müsse strategischer denken, und weil nur vier Spieler*innen auf dem Platz stehen, zähle wirklich jede Person auf dem Platz. «Man hat mehr Verantwortung, mehr Einfluss.»

Im Training des FC Surprise Chur ist jede*r willkommen, manche kommen nur wenige Male, andere bleiben und bringen Freund*innen mit. Im Kernteam – zu dem neben Khalili auch ihre Schwester Masuma und ihr Bruder Abul gehören – sind sie momentan zu elft. «Wenn andere dabei sind, sprechen wir deutsch. Aber wenn wir wie heute nur Afghan*innen sind, sprechen wir normalerweise persisch.»

Seit sechs Monaten trainiert der FC Surprise Chur in der Sporthalle des Schulhauses Daleu. Einmal im Monat fahren Khalili und ihre Schwester Masuma weiterhin nach Basel zum Training mit dem Offenen Frauenfussball-Treff, auch wenn Khalili sagt: «Ich mag das gemischte Team bei uns in Chur – man lernt schneller, wird mehr gefordert.» Einmal habe eine andere Spielerin sie gefragt, warum sie so hart kicke. Khalili lacht. «Weil ich vor allem mit Männern spiele.» Was sie besonders stolz macht: Ihre Schwester Masuma tritt in ihre Fussstapfen und nimmt an der diesjährigen Strassenfussball-Weltmeisterschaft in Norwegen teil.

Neben dem Strassenfussball hat Khalili im letzten Jahr auch eine Ausbildung zur Schiedsrichterin gemacht und wird an der Women’s Streetfootball EURO zum ersten Mal nicht als Spielerin, sondern als Schiedsrichterin teilnehmen. Heute pfeift sie alle zwei Wochen ein Spiel der C-Juniorinnen und Junioren. «Vor dem ersten Spiel hatte ich richtig Angst. Ich sagte: ‹Ich schaffe das nicht.› Aber mein Vater meinte: ‹Doch, du gehst. Du kannst das.›» Die bestärkenden Worte halfen.

Nach über fünfzehn Spielen ist das Lampenfieber mittlerweile verflogen. Was sie aber nach wie vor irritiere, sei der Umgangston, den sie manchmal am Spielfeldrand mitbekommt. «Ich sehe, wie manche der Trainer*innen mit den Junior*innen sprechen, streng, fordernd, manchmal sogar herablassend – das gefällt mir nicht.» Beim FC Surprise Chur kommunizieren sie respektvoll – Austausch statt Anweisung. Der Teamgeist ist ihr wichtiger als Perfektion oder Siege. «Wir sind Freund*innen – und wir sind auf Augenhöhe.»

Für Khalili sind Rivalität und Vergleichsdenken ohnehin blosse Zeitverschwendung. «Wenn, dann vergleiche ich mich nur mit mir selbst», sagt sie. «Ich denke daran, wie ich im Iran nicht Fussball spielen konnte. Und jetzt werde ich jeden Tag ein wenig besser.»

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