Ausgesperrt
Im Kanton Schwyz werden abgewiesene Asylsuchende in der Unterkunft Kaltbach tagsüber ausgesperrt – wie in einer Notschlafstelle. Egal, ob sie krank sind oder es draussen schneit. Doch die Bewohner wehren sich.

FOTO: KIRA KYND
Ein junger Somalier läuft im Nieselregen um einen weissen Container. Mit einer Hand hält er eine Bierdose, mit der anderen schlägt er unaufhörlich gegen seinen Kopf. Immer wieder zeigt er auf den verschlossenen Container und ruft: «Das ist die Schweiz. Das tut uns die Schweiz an.»
Habbane Bouraz ist einer von sechzehn alleinstehenden Männern, die in der Nothilfeunterkunft Kaltbach in Schwyz leben. Er heisst – wie alle Bewohner der Unterkunft in diesem Text – in Wirklichkeit anders. In der kleinen Ortschaft mit weniger als zweihundert Einwohner*innen gibt es ausser einer Tankstelle keine Einkaufsmöglichkeiten. Nachts schlafen die Asylsuchenden in dem Container zwischen dem Militäramt, dem Verkehrsamt und einer Umfahrungsstrasse. Tagsüber jedoch werden sie auf die Strasse gestellt und ausgeschlossen. «Diese Zustände machen uns psychisch kaputt», sagt Farid Abbas, der vor mehr als zehn Jahren aus dem Iran geflohen ist. Er stellt sich zu Habbane Bouraz in den Regen, ein Vordach gibt es nicht. Der 32-Jährige trägt einen Vollbart, eine Sonnenbrille und eine Kappe mit der Aufschrift «Mr. No One».
Es ist halb sieben Uhr abends, langsam kommen immer mehr Männer auf dem kleinen Kiesplatz vor dem Container zusammen. Die Schweizer Migrationsbehörden haben ihre Asylgesuche abgelehnt oder ihnen die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Seither leben sie in der Nothilfeunterkunft Kaltbach und warten dort jeden Abend vor den vergitterten Fenstern auf den Sicherheitsmann, der sie zu ihren Betten lässt. Einmal, am 13. April, protestierten sie auf ebendiesem Kiesplatz für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, mit Schildern in den Händen, auf denen stand: «Wir haben kein Leben! Wir haben keine Freiheit!» oder «Leere Herzen» und «Sie können uns nicht fühlen». An die Tür der Unterkunft klebten sie einen Zettel mit der Aufschrift «Willkommen im Psych Lab», als sei es ein Versuchslabor.
Nothilfe ist zugleich Druckmittel
Habbane Bouraz ist seit neun Monaten in Kaltbach untergebracht. «Das Leben hier kannst du nicht aushalten.» Einmal reiste er aus und suchte in einem anderen europäischen Land nach einer Perspektive, dort aber nahm die Polizei ihn fest und übergab ihn den Schweizer Behörden, die ihn wieder nach Kaltbach brachten. Auch wenn die Schweiz ihn nicht haben will, bleibt sie gemäss Dublin-Verordnung für ihn zuständig. Für eine Abschiebung fehlt den Schweizer Behörden ein Rückübernahmeabkommen mit Somalia.
Um 19.00 Uhr erscheint ein Angestellter der privaten Sicherheitsfirma Schilter Sichern-Bewachen AG, die vom Migrationsamt mit der Überwachung der Nothilfeunterkunft beauftragt wurde. Er trägt eine Leuchtweste und einen Hut mit breiter Krempe. Hinter ihm reihen sich die Männer zur allabendlichen Anwesenheitskontrolle ein. Er schliesst den Container auf. Wer zu spät kommt, wird sanktioniert. Zehn Franken pro Tag müssen den Männern zum Überleben reichen. Ausbezahlt wird das Geld jede Woche freitags im Amt für Migration im Kantonshauptort Schwyz, erreichbar in dreissig Minuten Fussweg. Einmal zu spät kommen, heisst zehn Franken Abzug.
Das Taschengeld ist Teil der Nothilfe. Laut Artikel 12 der Bundesverfassung hat jede Person in Not Anspruch auf «Hilfe, Betreuung und die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». Dieses Recht erhielt seine Bedeutung überhaupt erst mit dem Ausschluss abgewiesener Asylsuchender aus der regulären Sozialhilfe, die allen anderen Menschen in der Schweiz eine Existenzsicherung gewährleistet. Was also ein «menschenwürdiges Dasein» beinhaltet, wurde somit anhand abgewiesener Asylsuchender diskutiert und umgesetzt. Da abgewiesene Asylsuchende zur Ausreise verpflichtet sind, sollen sie nur das absolute Minimum erhalten. Die Nothilfe dient damit gleichzeitig als Unterstützung in der Not und als Druckmittel zur Ausreise. Damit werden laut Jurist*innen zwei eigentlich unvereinbare Prinzipien in einer Praxis vereint: Eine Verfassungsregelung, die geschaffen wurde, um Menschen vor einer absoluten Notlage zu bewahren, wird gleichzeitig zur Durchsetzung asylpolitischer Ziele verwendet.
Anwesenheitskontrolle, Sachen packen, raus!
Im Container ist es blendend hell. Die Räume sind beengt und kahl, die meisten Männer ziehen sich, sobald der Sicherheitsmann sie einlässt, sofort auf ihre Betten zurück. «Gestern waren wir noch zu sechst im Zimmer. Heute Morgen kam die Polizei und nahm einen Mann aus Nigeria mit. Jetzt sind wir nur noch zu fünft», erzählt Karim Pirani, ein 47-jähriger Mann mit schwarzer Brille. Er lebt seit elf Monaten in Kaltbach und kommt wie Farid Abbas aus dem Iran. Was mit dem Mann aus Nigeria geschah, weiss er nicht: «Ich glaube, er wurde ausgeschafft, das passiert hier regelmässig.»
Die drei Massenschläge mit Hochbetten, die kleine Küche und der Waschraum bieten kaum Privatsphäre. «Da wir den ganzen Tag ausgesperrt werden, gibt es abends grossen Andrang an der einzigen Waschmaschine und dem Kochherd», erzählt Pirani. Um 22 Uhr kommen die Sicherheitsleute wieder und schliessen die Küche ab. Auch die Nächte sind schwierig im «Bunker», wie die Bewohner die Unterkunft nennen. «Irgendjemand schnarcht immer», sagt Farid Abbas. Im Gegensatz zu anderen Nothilfeunterkünften gebe es hier zwar Fenster, doch ein Ort zum Leben sei es nicht.
Um 8 Uhr morgens wecken zwei Sicherheitsleute die Männer. Dann müssen sie noch einmal zur Anwesenheitskontrolle unterschreiben, ihre Sachen packen und die Unterkunft spätestens um 9.30 Uhr verlassen haben. Farid Abbas erzählt, wie die Sicherheitsleute durch die Räume laufen und zynisch singen: «Guten Morgen, liebe kleine Ausländer! Steht auf, ihr müsst das Land verlassen!» Karim Pirani lacht bitter über die Erzählung und nickt. Was die Schilter AG zu den geschilderten Vorfällen meint, bleibt unklar, da sie «aus Sicherheitsgründen grundsätzlich keine Auskunft» gebe – wie es auf Anfrage heisst. Auch bei Krankheit und psychischen Krisen müssen die Bewohner sich an dasselbe Sicherheitspersonal wenden, teilt das Amt für Migration auf Anfrage mit. Den Tag müssen sie in jedem Fall draussen verbringen. Eine ärztliche Behandlung erhalten die Betroffenen erst, wenn sie sich am Schalter des Migrationsamts melden.
Wie der Minimalanspruch der Nothilfe auf Nahrung, Kleidung und Obdach umgesetzt wird, bestimmen die Kantone. In Schwyz setzt das Migrationsamt also auf eine tagsüber geschlossene Notschlafstelle ohne Aufenthaltsräume. Auf Anfrage schreibt dessen Amtsvorsteherin Tünde Szalay, die Nothilfe solle sich «auf den minimalen Standard» beschränken und keinen Anreiz zum Verbleib in der Schweiz bieten.
In vielen Kantonen erhalten jedoch auch abgewiesene alleinstehende männliche Asylsuchende eine durchgehend zugängliche Unterkunft – etwa im Kanton Bern. Auf Anfrage heisst es von dort, eine tagsüber geschlossene Unterkunft reiche nicht aus, um «Stabilität, Sicherheit und einen möglichst normalen Alltag» zu bieten. Es sei daher «ein politischer Entscheid», im Kanton Bern auf durchgehend zugängliche Unterkünfte zu setzen. Laut Erfahrungsberichten von Bewohner*innen der Berner Rückkehrzentren ist auch das dortige Leben zermürbend und weit von einem normalen Alltag entfernt. Auch im Kanton Schwyz werden nicht alle abgewiesenen Asylsuchenden tagsüber ausgesperrt. Frauen und Familien werden in einer separaten Unterkunft untergebracht, wo sie auch tagsüber sein können.
Solidarität im Ort
Am nächsten Tag machen sich Karim und Farid auf ins «Mitenand Schwyz». Das alte Haus liegt im Herzen der Stadt Schwyz und dient als Begegnungsort für Asylsuchende und Einheimische. Es ist ein von Freiwilligen getragenes Projekt. Unter dem Vordach sitzt die Mitinitiatorin Charlotte Siegwart auf einer grünen Holzbank und begrüsst die Männer mit einer Umarmung. Dank einer Leistungsvereinbarung erhält der Verein etwas Geld von der Gemeinde, um etwa die Heizkosten zu decken. Das Holzhaus hat keine Zentralheizung und ein undichtes Dach. Der Verein «Mitenand» organisiert Deutschkurse, Malkurse, Kinderbetreuung, Konversationsrunden und bietet kostenlose Kleidung und Velos an. Die Holztreppe ins Obergeschoss knarrt bei jedem Schritt. Drinnen ist es warm, der Duft von Lasagne liegt in der Luft. Heute sind etwa zwanzig Geflüchtete anwesend, zehn davon aus Kaltbach. In der engen Küche wird geredet, gelacht und gekocht – wie jeden Mittwoch.
Für ein paar Stunden können sich die Menschen hier entspannen. «Das ist ein sicherer Ort», sagt Farid Abbas und serviert Tee und Zitronenkuchen, «doch leider kann selbst ‹Mitenand› für uns die Tür nicht immer offen halten.» Berzan Demirtaş, ein junger Kurde, setzt sich dazu. «Gestern waren wir tagsüber am Bahnhof, heute im Einkaufszentrum – wo sollen wir morgen hin?» Siegwart ergänzt: «Die Leute regen sich über ‹rumlungernde Männer› auf, ohne zu wissen, dass diese keinen Ort haben und nicht arbeiten dürfen.» Je nach Wetterbedingungen suchen sich die Abgewiesenen tagsüber andere Orte, führt Farid Abbas aus, oft einfach eine freie Parkbank. «Jeder hat seinen eigenen Plan und Überlebensstrategie.» Einige fahren nach Luzern oder Zürich, um dort Deutschkurse oder andere Einrichtungen zu besuchen, während andere sich mit Sport beschäftigt halten. «Es gibt nichts zu tun. Wir warten nur, dass die Zeit vergeht. Und am nächsten Morgen bedauern wir dann die Verschwendung des vorherigen Tages.»
Vergebens auf Menschlichkeit gehofft
Das Leben im Nothilferegime setzt den Bewohnern psychisch stark zu. Deshalb beschlossen sie im Rahmen der Protestaktion vor der Unterkunft im April, über die Kanäle des «Migrant Solidarity Network» – diese Organisation setzt sich gemeinsam mit (geflüchteten) Migrant*innen für deren Rechte ein – einen offenen Brief zu veröffentlichen. Darin beschreiben sie die unhaltbaren Zustände der Unterkunft: «Wir haben die Wahl zwischen dem Tod oder einem Ort, der uns krank macht.»
Der Brief lag wochenlang auf einem Tisch in der Unterkunft bereit. Farid Abbas hätte ihn gern schon früher veröffentlicht, doch Charlotte Siegwart hielt ihn zunächst zurück. Sie wollte zuerst mit der Migrationsbehörde sprechen. Tatsächlich hatte vor fünf Jahren ein Gespräch einige notwendige Verbesserungen gebracht: Das Amt tauschte von Bettwanzen befallene Matratzen aus, installierte eine Waschmaschine und gestattete den Bewohnern, bei Minustemperaturen tagsüber in der Unterkunft zu bleiben – was auch heute noch gilt.
Anfang April setzte Siegwart erneut Hoffnung in einen Dialog mit der Amtsvorsteherin: «Doch diesmal stiessen wir auf Granit.» Sie ist nicht überrascht: «In Schwyz ist die Fremdenfeindlichkeit zu stark.» Die Stimmung gegen Geflüchtete sei menschenverachtend. «Nicht nur in Schwyz, sondern in ganz Europa und weltweit.» Wie auf die öffentliche Protestaktion reagierte das Migrationsamt Schwyz auch nicht auf den offenen Brief. Ende April verlagerten Habbane Bouraz, Karim Pirani, Farid Abbas und drei weitere Bewohner ihren Protest und verbrachten einen ganzen Freitag vor dem Migrationsamt in Schwyz, um eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu erwirken. «Trotz Regen sind wir hier, und am Montag machen wir weiter», sagt Farid Abbas. Am Montag sind sie bereits zu acht. Am Dienstag ruft das Amt die Polizei – und die Protestierenden werden des privaten Geländes verwiesen. Die Polizei verhaftet Farid Abbas kurzzeitig, weil er sich in der Schweiz nicht legal aufhalten kann.
«Wir werden unsere Praxis nicht ändern», schreibt Amtsvorsteherin Szalay auf Nachfrage von Surprise. Auch die restliche Woche versammeln sich die Bewohner der Nothilfeunterkunft Kaltbach täglich auf einem öffentlichen Platz im Zentrum von Schwyz. Für Farid Abbas und seine Kollegen ist klar: «Wir müssen für uns kämpfen – niemand sonst wird es tun.»