Aus den Augen, auf den Teller

Der Mensch macht sich Tiere untertan, er besitzt und isst sie. Seit der Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion sieht er die Schweine, Hühner und Kühe, von denen er sich ernährt, kaum noch.

16.04.2025TEXT UND FOTOS: Klaus Petrus

Foto: Klaus Petrus

 

Wann haben Sie zuletzt ein Mastschwein gesehen? Auf diese Frage antwortete vor zwei Jahren im Kanton Luzern mehr als die Hälfte der Befragten mit: noch nie. Dabei leben dort 430 000 Schweine, das sind mehr als der Kanton Einwohner*innen hat. Insgesamt werden in der Schweiz jedes Jahr 83 Millionen «Nutztiere» allein für den menschlichen Verzehr gezüchtet, gemästet und geschlachtet, Fische nicht einberechnet – von ihnen ist nur in Tonnen die Rede. Eine schier unvorstellbare Zahl.

Dass wir die meisten dieser Tiere nicht zu Gesicht bekommen, hat auch mit der industrialisierten Nutztierhaltung zu tun, um die es im Folgenden geht. Der kapitalistischen Verwertungslogik folgend, werden auf einer möglichst kleinen Fläche möglichst viele Tiere gehalten, die in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Fleisch ansetzen, Milch geben oder Eier legen. Diese Intensivhaltung – auch «Massentierhaltung» genannt – findet abgelegen und versteckt in speziell ausgerüsteten Stallungen, Hallen oder Betonbuchten statt.

Zwar hält sich, auch dank der Werbung der Bauernverbände und Discounter, in der Schweiz nach wie vor das Bild einer Landwirtschaft aus Heidi-Filmen: kleinbäuerliche Betriebe mit Kühen, Schweinen und Hühnern auf saftig grünen Wiesen. Doch auch hierzulande ist die Massentierhaltung längst Realität. Seit Jahrzehnten gibt es immer weniger Bäuer*innen, dafür immer mehr Tiere: 18 000 Hühner in einer einzigen Halle, 10 Schweine auf der Grösse eines Auto-Stellplatzes, zeitlebens ohne Stroh und ohne Auslauf – das ist auch in der Schweiz inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Norm.

Dabei leben nicht alle Tiere gleichermassen hinter Mauern. Hunde oder Katzen – von letzteren gibt es in der Schweiz 1,85 Millionen – sind mitten unter uns. Dass ein Hund sichtbar ist, ein Schwein dagegen kaum, hat mit den Tieren selbst nicht viel zu tun. Kein Tier kommt als «Mastschwein», «Milchkuh», «Legehenne» oder «Schosshund» zur Welt. Das sind Kategorien, die wir uns zurechtlegen, und zwar je nach dem Zweck, den wir für diese Tiere vorgesehen haben. Wie willkürlich solche Einteilungen sind, zeigt das Kaninchen: Je nachdem ist es für uns Kuscheltier, Masttier, Zirkustier oder Versuchstier. Und doch prägen diese Kategorisierungen nachhaltig unser Verhältnis zu den Tieren, auf gesellschaftlicher, politischer und auch gesetzlicher Ebene. Wer beispielsweise seinen Hund über längere Zeit angekettet in eine dunkle Box sperrt, muss mit Strafen oder Sanktionen rechnen. Wer dasselbe mit Kühen oder Schweinen tut, macht sich nicht strafbar, im Gegenteil: Ein solcher Umgang mit «Nutztieren» wird von weiten Teilen der Gesellschaft stillschweigend akzeptiert, ist durch das Tierschutzgesetz legitimiert und darüber hinaus staatlich subventioniert.

Serie: Hinter Mauern

Was trägt sich hinter Mauern zu? Da, wo wir nur selten Einblick bekommen? Was verbergen Mauern, was wird vom Rest der Gesellschaft abgeschirmt? Und zu welchem Zweck? Wie lebt es sich hinter Mauern, und vor allem: wer? In unserer neuen Serie blicken wir hinter unterschiedliche Mauern – bauliche, aber auch soziale oder symbolische.

Hunde tragen Namen, Schweine tragen Nummern

Gerade bei Nutz- und Haustieren entspricht die Unterscheidung zwischen unsichtbar und sichtbar oft jener zwischen essbar und nicht-essbar. Dass Kälber oder Schweine auf unseren Tellern landen, ist normal. Hingegen käme es nachgerade einem Bruch des «Kannibalismus-Tabus» gleich, würden wir Hunde und Katzen verspeisen, denn für viele sind sie engste Gefährten oder gar Ersatzmenschen. Auch diese Einteilung ist nicht naturgegeben, sondern kulturell oder religiös bedingt. Das zeigt die wiederkehrende Empörung aus dem Westen, wenn in anderen Regionen der Welt Hunde oder Meerschweinchen geschlachtet und gegrillt werden; umgekehrt essen Menschen hierzulande Kinder von Tieren, die andernorts als heilig gelten.

Die «Verwandlung» von Tieren in Nahrungsmittel ist eine gängige Praxis, um sie unsichtbar zu machen. Nachdem Rinder oder Schweine geschlachtet wurden, werden sie ausgenommen, zerstückelt und steril verpackt zu einem Stück Fleisch. Und wir benennen sie um. Aus einem Rind (oder was von ihm übrigbleibt) wird ein «Hamburger» und aus einem Huhn ein «Poulet». Auf diese Weise werden sie als Nahrungsmittel und nicht mehr als Tiere wahrgenommen.

Dazu passt, dass wir namentlich Nutztiere als anonyme Masse behandeln, als austauschbare Objekte mit Nummern: ein Mastschwein für ein beliebig anderes. Andere Tiere betrachten wir als Subjekte, wir geben ihnen Namen (Lana, der Hund, ist Lana und nicht Rina), feiern ihre Geburtstage und bestatten sie.

Tiere, die wir als Individuen behandeln, sind Teil unserer Gesellschaft und entsprechend sichtbar (auch in Erzählungen, Märchen oder Filmen). Sie verschwinden aus unserer Wahrnehmung, je mehr wir in ihnen bloss Objekte sehen – ausser ihr Zweck besteht darin, uns zu unterhalten, so wie es Zirkustiere tun, oder für uns ausgestellt zu werden, etwa im Zoo (siehe Schema Seite 12). Dass bestimmte Tiere hinter Mauern leben, ist also nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn zu nehmen: Sie werden, natürlich mit Ausnahmen, zum Verschwinden gebracht, indem sie bestimmten, von uns fabrizierten Kategorien zugeordnet werden, so etwa der Kategorie «Nutztiere». Eine solche Zuordnung wird gesellschaftlich eher akzeptiert, wenn die Tiere als Objekte behandelt werden. Diese Verdinglichung unterliegt natürlich keinem kognitiven Irrtum: Anders als etwa im 17. Jahrhundert, als auch in der Wissenschaft Tiere noch weitgehend als Maschinen betrachtet wurden, weiss man heute, dass sie empfindungsfähige Wesen sind.

Und doch schreiben wir insbesondere Nutztieren nach wie vor Eigenschaften zu, die üblicherweise für Dinge gelten. In der industriellen Nutztierhaltung werden zum Beispiel Kühe ausschliesslich als Mittel zu einem bestimmten Zweck betrachtet, nämlich als Milchlieferantinnen.

Der Wert einer «Milchkuh» bemisst sich allein an der Menge Milch, die sie produziert; nimmt diese ab, verliert die Kuh an Wert, sie wird aussortiert und geschlachtet. Das trifft auf Nutztiere allgemein zu. Sie gelten als Produktionsressourcen. Mit möglichst wenig Input (z.B. Futter) sollen sie möglichst viel Output (z.B. Milch, Fleisch, Eier) generieren.

Auch werden Nutztiere, wie andere Dinge oder Maschinen, wenn nötig den Produktionsbedingungen angepasst: Weil sich Hühner auf engem Raum gegenseitig verletzen, was natürlich deren Produktivität verschlechtert, lötet man ihnen die Schnabelspitze weg; damit Kühe möglichst viel Milch für uns Menschen produzieren, werden sie jedes Jahr geschwängert und man nimmt ihnen die Kälber weg; oder man kupiert Schweinen die Schwänze, weil sie in beengten Buchten zu Kannibalismus neigen.

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Dass besonders jene Tiere, die unsichtbar sind, wie Objekte behandelt werden, bedeutet nicht zwingend, dass man mit ihnen tun und lassen kann, was man will. In der Schweiz ist der Tierschutz in der Verfassung verankert, ja sogar die Würde des Tieres wird geschützt – kein anderes Land geht rechtlich so weit. Es ist verboten, Tieren «ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden oder Schaden» zuzufügen, und wer mit Tieren umgeht, hat für deren Wohlergehen zu sorgen – allerdings nur, und das ist der entscheidende Zusatz, «soweit es der Verwendungszweck zulässt».

 

Die Würde der Tiere ist antastbar

Bei Nutztieren besteht dieser Verwendungszweck darin, dass sie Nahrungsmittel für den Menschen sind. Weil dies bisher nicht grundlegend hinterfragt wird, sind viele Praktiken im industriellen Umgang mit Nutztieren vom Gesetz her erlaubt – und das, obschon sie nachweislich das Tierwohl beeinträchtigen. Ein Leben in beengten Verhältnissen gehört dazu, ebenso die bereits erwähnten Verletzungen, das Unterbinden von Beziehungen, aber auch die Tatsache, dass die meisten dieser Tiere nur einen Bruchteil ihrer Lebenserwartung erreichen und geschlachtet werden, noch bevor sie erwachsen sind. So kann ein Rind bis 25 Jahre alt werden; als «Milchkuh» hat es aber bereits nach vier bis sechs Jahren ausgedient, als «Mastrind» wird es nach 20 Monaten geschlachtet, als Kalb schon nach fünf. Und obschon ein Huhn bis zu acht Jahre alt werden kann, kommt es als «Legehenne» nur auf eineinhalb Jahre und als «Masthuhn» gerade mal auf sechs Wochen.

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All das fällt, wie gesagt, nicht etwa unter Tierquälerei, sondern ist mit dem schweizerischen Tierschutzgesetz vereinbar und angeblich auch mit der Würde des Tieres. Aber wenn das Gesetz vorschreibt, dass das Tierwohl nur verletzt werden darf, wenn es wirklich nötig ist, es keine Alternativen gibt – sollte man dann nicht fragen, ob die Menschen in einem Wohlstandsland wie der Schweiz tatsächlich auf tierliche Nahrungsmittel angewiesen sind oder ob wir uns nicht auch anders, pflanzenbasiert, gesund und ausgewogen ernähren könnten?

Obschon es etliche Belege dafür gibt, dass diese Frage bejaht werden kann, haben Tiere bis heute keine Rechte, die es verbieten würden, sie für menschliche Zwecke auszubeuten und zu töten. So konsumieren 97 Prozent der Schweizer Bevölkerung regelmässig tierische Produkte, aus Genuss, Tradition oder Gewohnheit. Das zeigt, dass dieses Thema bisher eher ein soziales ist und weniger ein moralisches im Sinne der Frage: Haben wir ein Recht darauf, Tiere zu essen?

Das Essen von Tieren ist trotz Alternativen gesellschaftlich immer noch weithin anerkannt, es ist normal.

Hinter dieser Normalität steht auch das Selbstverständnis des Menschen, über den Tieren zu stehen. Obschon die Evolutionsbiologie Gegenteiliges nahelegt, ist die Überzeugung nach wie vor verbreitet, dass wir Menschen etwas besitzen, das die anderen Tiere nicht einmal im Ansatz haben, – wie Intelligenz, Selbstbewusstsein oder Moral – und dieses Etwas uns berechtigt, uns Tiere «untertan zu machen». Und dass wir Tiere als unser Eigentum betrachten; sie gehören nicht sich selber, sie gehören uns. Obschon dies nicht bloss für Schweine, Kühe oder Hühner gilt, sondern auch für Hunde, Katzen und Meerschweinchen – auch sie sind Besitztum, das erworben, verkauft oder verschenkt werden darf –, sind es erneut die Nutztiere, die weniger zählen.

Was nicht verwunderlich ist, wo wir sie ja nie zu Augen bekommen. Ob sich in unserem Verhältnis zu ihnen etwas ändern würde, wenn – wie der Ex-Beatle Paul McCartney vorschlägt – Tierfabriken und Schlachthäuser gläserne Wände hätten, bleibt eine offene Frage.

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