Am Berg
Sucht Seit Jahren führt Hans Peter Meier als Surprise-Stadtführer durch Zürich und erzählt von seiner Alkoholabhängigkeit. Dabei waren in seiner Jugend die Berge seine Welt. Ein Ausflug auf die Kleine Scheidegg.
Drei Stunden brauchte er, um hierher zu kommen. Zürich HB, 409 Meter über Meer, ab 8.02 Uhr; Kleine Scheidegg, 2061 m ü. M., an 11.08 Uhr. Er brauchte aber auch dreissig Jahre, ein halbes Leben, um wieder hier zu sein.
Jetzt, im August 2025, mit bald 67 Jahren, sitzt Hans Peter Meier, ein Name wie ein Schweizer Versprechen, im Schatten des Sonnenschirms auf der Terrasse vom Berghaus Grindelwaldblick, vor sich eine Eiger Rösti mit Speck, Käse und Spiegelei und ein Mineral ohne. Kurz vor dem Mittagessen hat er links an der Eigernordwand vorbei – er würde «nordöstlich» sagen – auf das Wetterhorn gezeigt, 3692 m ü. M.. Wo? Wir anderen gucken und suchen. Zu jedem Gipfel hat Meier eine Geschichte parat. Ob er nach den dreissig Jahren ohne Kleine Scheidegg nochmals hierherkommen werde? Ja, sagt er, «ich fühle mich gerade wahnsinnig daheim». Vor diesem Tag war er sich nicht sicher gewesen, was überwiegen würde, die Trauer oder die Freude.
1995 war Hans Peter Meier 36 Jahre alt, frisch verheiratet und IT-Spezialist mit einem richtig guten Lohn. Er fuhr wie heute mit der Zahnradbahn auf die Kleine Scheidegg, als Tourist wie viele andere statt als der Profibergsteiger, der er gerne geworden wäre. War das Pech? Oder eher ein Glück? Wo doch die Liste abgestürzter Profis – Ueli Steck etwa oder Luis Stitzinger – lang ist? Meier zeigte seiner damaligen Frau die Berge, über die er noch heute so spricht, als wären sie alle gute Freunde von ihm. Sie hätte dem Namen wegen einen Fuss auf die Jungfrau, 4158 m, setzen wollen, doch sie trug Absatzschuhe. Hans Peter Meier ist für viel Seich zu haben, sagt er, aber solche Spässe mache er nicht mit.
Das Wetterhorn, oberhalb von Grindelwald, ist jenes, das sich gegen oben hin leicht von uns weg neigt. «Eine richtige Genusskletterei am Rande des Abstürzens.» Hans Peter Meier freut sich über unsere bestürzten Gesichter, im Gesicht ein Lausbubenlachen. Ganz klar wird bei ihm nie, wie nahe am Abstürzen das damals tatsächlich war. Er erzählt gerne, immer auf dem Grat zwischen Helden- und Räubergeschichte.
Der Körper eines Zwanzigjährigen
Mal wieder die Eigernordwand sehen, darum ist Hans Peter Meier heute hier. Diese über 1800 Meter hohe, teils brüchige Kalkwand, diese Berühmtheit der Alpen. Mit sechzehn Jahren durchstieg er sie zum ersten Mal, auf der Heckmair-Route, bei zwei früheren Versuchen musste er wegen Schneestürmen und Lawinen umkehren; etwa zwei Dutzend weitere Male folgten. Beim schnellsten Mal brauchte er auf den Gipfel, 3967 m, in einem Zweierteam lockere fünfeinhalb Stunden. Der Rekord von Ueli Steck liegt bei 2 Stunden, 22 Minuten und 50 Sekunden; die Erstbesteiger brauchten 1938 drei Tage.
Zwischen dem Hans Peter Meier von damals und dem Hans Peter Meier von heute ist viel passiert, und doch ist ihm wohl kein Hans Peter Meier so nahe wie der junge. Er hier mit sechzehn, im Jahr 1975, wäre wohl nervös geworden ab dem ganzen Geplauder und Stehenbleiben hier für ein Foto und da schon wieder. Und 55 Höhenmeter von der Kleinen Scheidegg rauf zur Bergbeiz? Dafür hätte er sich doch nicht Wanderschuhe angezogen.
Ja, ein Wunsch wäre es schon, die Eigernordwand nochmals zu machen, sagt Hans Peter Meier. Doch sein Körper lasse das nicht mehr zu. Die Leiste, verkalkte Blutbahnen, Diabetes. Blutverdünner und allerlei Medikamente. Ein Leben zeichnet einen Körper, dazu über zwanzig Jahre Alkoholsucht. Den Körper eines Zwanzigjährigen hätte er gerne wieder. Immerhin kann er wieder gehen. Zwei Jahre lang hatte er Schmerzen bei jedem Schritt und er, der erste Surprise-Stadtführer in Zürich, musste seine Führungen pausieren.
Vor der Tafel, die die Routen durch die Eigernordwand zeigt und eine ganze Alpinismus-Historie abbildet – die Heckmair-Route (erstmals begangen 1938), die John-Harlin-Route (1966), die Japaner-Direttissima (1969), Les Portes du Chaos (1979), die neueren dann zum Beispiel The Young Spider (2001) oder Magic Mushroom (2007) –, geht Hans Peter Meier den Schwierigen Riss durch, den Hinterstoisser-Quergang, das erste Eisfeld, dann das Todesbiwak, und erklärt: «Die Ersten, die das probiert haben im Jahr 1935 – Sedlmayr und Mehringer –, haben einen sehr direkten Weg genommen und sind in diesem Biwak gestorben, weil ein riesiger Wetterumsturz gekommen ist. Man hat die Eigernordwand auch ‹Mordwand› genannt.»
Keine Bergsteigerfamilie
Hans Peter Meier wuchs in Zürich und Basel auf. Die alleinerziehende Mutter eine Wanderin, ansonsten ein eher bodenständiges als abenteuerlustiges Elternhaus, keine Bergsteigerfamilie. Drei ältere Schwestern, er der Nachzügler und der Einzige, der mit der Mutter wandern ging, zum Beispiel ins Aletschgebiet. Mit zehn Jahren machte er seine erste Hochtour, er bestieg mit seiner Mutter und einem Bergführer einen Viertausender, aber nicht das einfachere Allalinhorn, 4027 m, sondern das Finsteraarhorn, 4274 m. Auf dem Grat sagte der Bergführer dem zehnjährigen Buben: Schau, es ist ganz einfach, entweder schaust du hier runter, da sind es 1000 Meter, oder du schaust auf der anderen Seite runter, da sind es 1500 Meter. Damit war die Sache für ihn erledigt. «Vielleicht hat mir das die Angst genommen, weil ich so jung war.» Mit zwölf machte er mit seiner Mutter eine Tour auf die Jungfrau, dieses Mal ohne Bergführer.
Er war auf allen Viertausendern der Alpen, das sind 82 Gipfel. Mit sechzehn, noch vor der Eigernordwand, machte Hans Peter Meier die Nordwand des Matterhorns, 4478 m. Mit siebzehn die dritte grosse Nordwand der Alpen, jene der Grandes Jorasses, der höchste Gipfel 4208 m. Am Mönch, 4110 m, hat er jede Route gemacht, auch an der Jungfrau. Auf dem Mont Blanc, 4805 m, war Hans Peter Meier über zwanzig Mal. Wenn es frühmorgens noch bibbernd kalt war, er über einen Grat ging und ihn dann die ersten Strahlen der Sonne trafen, die Berge in rosa Licht tauchten, dann liefen ihm vor Schönheit und Ergriffenheit die Tränen. Etwas vom Schönsten, das man erleben kann, sagt Hans Peter Meier.
Er suchte das Limit. Es brauchte seine ganze Konzentration, er lebte dann nur in diesem einen Moment. Nur dieser eine Griff. Noch nicht an den nächsten denken. Dieser Zustand über zwölf oder fünfzehn Stunden, und dann auf dem Gipfel stehen. «Das alles hat natürlich ein gewisses Suchtpotenzial.» Die Berge lehrten ihn auch durchzuhalten, er entwickelte eine innere Stärke, die ihm bis heute wichtig ist.
Nach einem Erlebnis am Mont Blanc war Hans Peter Meier jahrelang kälteempfindlich. Für die Nacht planten er und sein Kletterpartner, in der Biwakschachtel zu übernachten, einer Schutzhütte mit Schlafplätzen. Doch als sie dort ankamen, war sie zugeschneit. Zum Umkehren war es zu dunkel. Also schliefen sie bei tiefen Minustemperaturen ohne Ausrüstung draussen. Sie waren gottlose Optimisten, sagt Meier, und statt am nächsten Morgen umzukehren, fanden sie: Noch schnell auf den Gipfel, die Route ist ja nicht so schwer. Doch dann passierte, was im hochalpinen Gebirge eben passiert: Das Wetter kippte, sie kamen in einen Schneesturm mit starken Winden und verbrachten eine zweite kräftezehrende Nacht ohne Biwak. Als sie nach dem Gipfel abstiegen, sanken sie bei jedem Schritt bis zur Hüfte ein, so viel Neuschnee hatte es gegeben. Sie hatten noch kein Funkgerät, mit dem sie hätten Hilfe rufen können.
Die Kälte, die Verzweiflung, die Angst. Meier und sein Kletterpartner, beide weinten sie. Sie wussten: Wenn der eine stirbt, dann sterben wir beide. Schritt für Schritt bissen sie sich durch runter zur Aiguille du Midi, 3842 m, wo sie mit der Seilbahn nach Chamonix, 1035 m, fuhren und mit der Ambulanz ins Spital gebracht wurden. Sie waren erschöpft und unterkühlt, hatten an Fingern und Zehen leichte Erfrierungen, beinahe hätten sie amputiert werden müssen.
Als die beiden nach einer Woche aus dem Spital kamen, sahen sie zum Mont Blanc hinauf, der in der Sonne glitzerte, welch eine Pracht. Sie schauten sich an, lächelten und sagten: Die Normalroute, doch, die liegt drin. «Wir waren durchgeknallt.»
Es waren die Jahre, in denen sich Hans Peter Meier, auch wenn das ein Irrtum sein musste, unsterblich fühlte. Er konnte machen, was er wollte, alles gelang ihm. Heute sagt er: Dass sowas irgendwann aufhört, ist ja klar.
Andere stürzten ab
Hans Peter Meier hätte seinen Brotjob als Fotograf gerne aufgegeben und stattdessen vom Bergsteigen gelebt, wie ein Reinhold Messner vor ihm oder später ein Stephan Siegrist oder Ueli Steck. Er und sein Kletterpartner wollten als Erste in Alaska den Mount McKinley, 6190 m, den höchsten Berg Nordamerikas, im Winter durch die Südwand besteigen. Sie stellten sich vor, dass sie so den Sprung unter die Profis schaffen könnten.
Doch dann kam sein Kletterpartner eine Woche, bevor sie starten wollten, in einer Lawine zu Tode.
Meier überlegte sich noch, ob er den Plan alleine durchziehen sollte. Doch in der Trauer fühlte er sich psychisch nicht stabil genug. Der Kletterpartner, der in den Bergen starb, war nicht der erste. Mit zwanzig Jahren hatte Meier schon achtzehn Menschen verloren. Er war nie dabei, es waren Anrufe auf das Festnetztelefon, wenn er abends daheim war, bei denen er davon erfuhr. Der Horror, sagt er.
Andere stürzten ab, Hans Peter Meier kam jedes Mal lebend vom Berg zurück.
Er kletterte jetzt immer öfter Free Solo, also alleine und ohne Klettergurt, Karabiner und Seil. Ein Sturz hätte den Tod bedeutet. «Man muss stabil sein wie ein Fels, nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Wenn man eine Unsicherheit hat oder irgendetwas, das nicht so läuft im Leben, eine Trennung oder sowas, dann wäre Free Solo lebensmüde.» Und die Angst, die hochkam, wenn er morgens um vier oder drei Uhr aus der Hütte ging, die Berge im Halbdunkel lagen, nur im Licht des Mondes, und gespenstisch aussahen? Er schaute die Angst an und hörte zu, was sie ihm sagen wollte. «Ich versuchte den Unterschied zu erkennen – zwischen der Angst, die mich davon abhält, etwas Dummes zu machen, und der Angst, die mich nur blockiert. Mit der Zeit habe ich das gespürt.» So ganz erklären kann er es auch nicht. Dann, nach ein paar Jahren, in denen er alleine weitermachte, beendete Hans Peter Meier mit 26 Jahren das Extrembergsteigen, auch das Extremskifahren und Bungeespringen. Würde er weitermachen, so würde auch er irgendwann abstürzen.
Wie ersetzt man eine solche Intensität? Kann man sie überhaupt ersetzen? Und zu welchem Preis? Hans Peter Meier begann zu meditieren und tauchte in den Buddhismus ein; es ist das, was er bis heute macht. Mit viel Übung konnte er in einen ähnlichen Zustand kommen, wie wenn er Free Solo kletterte. Er war im Moment, das schon. Doch es blieb schwierig.
Die Leere blieb
Hans Peter Meier holte die Matura nach und arbeitete, weil er kein Stipendium erhielt, daneben Vollzeit in der IT. Das waren lange Tage, vierzehn, sechzehn Stunden. Er machte nichts nur ein bisschen, er machte es zu hundert Prozent. Im Studium, Informatik an der Universität Freiburg, und dann als IT-Spezialist ging es genauso weiter, und es wurde ja auch so von ihm verlangt, von den Chef*innen, von den Kolleg*innen.
Die sechzehn Stunden Arbeit am Tag füllten zwar Meiers Zeit, doch die Leere blieb. Tagsüber trank er einen Kafi nach dem anderen. Abends dann Bier, um abstellen und runterfahren zu können. So viel, dass er am nächsten Tag noch immer ziemlich viel Promille im Blut hatte und trotzdem so programmieren konnte. Alkohol, diese gesellschaftlich akzeptierte Droge. Der Bergsteiger hatte seinen Körper und dessen Grenzen gut spüren müssen – jetzt spürte er sich kaum noch. Zuletzt war er für eine Software zuständig, mit der Banken den Börsenhandel betrieben. Im Jahr 2000 platzte die Dotcom-Blase und wenige Jahre später, 2003, verlor Hans Peter Meier mit 45 Jahren zuerst seinen Job, dann auch seine Wohnung. Ein halbes Jahr war er obdachlos.
Die Jahre vergingen, irgendwann wurde Meier klar: Wenn er mit dem Alkohol so weitermachte, kommt es nicht gut, er schädigt seinen Körper. Durch das Trinken und die grossen Mengen Flüssigkeit hatte er oft Durchfall. Und dann, im Dezember 2010, mit 52 Jahren und nach zwei Jahren Vorbereitung hörte er auf mit dem Alkohol. Wenn ihn das Streben nach Intensität in den Bergen später in die Alkoholsucht gebracht hat, so hat ihn womöglich auch etwas aus den Bergen wieder davon weggebracht: seine innere Stärke.
Und kurz bevor Hans Peter Meier zurück nach Zürich fährt, 409 m, in drei Stunden mit dem Zug, eine Frage, die ihn wehmütig macht. Was, wenn er Profibergsteiger geworden wäre? Wahrscheinlich, sagt er, hätte er Bücher geschrieben. Auf jeden Fall hätte er die ganze Zeit das gemacht, was ihm Spass macht und die volle Erfüllung ist. Aber eben, falls er nicht abgestürzt wäre. «Das Leben habe ich dann doch zu gerne.»