Von beissenden Hunden und verschwundenen Beizen (603)

27.06.2025Text: Klaus PetrusILLUSTRATION: PIRMIN BEELER

In einem Zug zwischen Biel-Bienne und Basel, viertel vor zehn am Morgen, die Abfahrt verzögert sich, zwei Männer sitzen sich in einem Abteil gegenüber, beides Pensionäre, beide mit kariertem Hemd, der eine hat ein beigefarbenes Chäppi auf, ich quer gegenüber, lauschend. Der mit Chäppi ergreift die Initiative:

«Jetzt habe ich das Handy auf dem Küchentisch liegengelassen, gopferteckl!»

«Ohjemine.»

«So kommt man wenigstens ins Gespräch, nicht wahr?»

«Geschieht nichts Schlimmeres.»

Beide lachen. Der ohne Chäppi:

«Wo wohnen Sie denn?»

«In Nidau.»

«Schönes Örtchen. Hatte dort früher mal Aufträge. Und einen guten Metzger gibt es da.»

«Die Stedtli Metzg? Die musste zutun voriges Jahr.»

«Ohje, ohje. Die guten Metzger sind inzwischen rar geworden.»

«Das können Sie laut sagen, gopferstüdeli. Alle rennen ins Coop. Mit den Bäckereien ist es genauso.»

«Und den Beizen. Man muss schon sehr lange gehen, um noch eine gemütliche zu finden.»

«Überall nur noch Pizzas. Und Kebab.»

«Sagen Sie nüt.»

Längere Pause. Dann der mit Chäppi:

«Wenn man das Handy vergisst, kommt man leicht ins Lafferen.»

«Ehja.»

«Sie kommen von wo?»

«Bin in Kleinbasel zuhause.»

«Dann fahren Sie jetzt aber in die lätze Richtung!»

Beide lachen. Der ohne Chäppi:

«Habe in Biel eben eine Bekanntschaft, deswegen.»

«Das ist auch gäng etwas.»

Beide lachen.

Der mit Chäppi:

«Was für Aufträge?»

«Wie Aufträge?»

«Sie sagten, Sie hätten in Nidau Aufträge gehabt, nicht wahr?»

«Achso, jaja. War Hochbauzeichner, da hatten wir immer wieder mal Arbeit in der Gegend. Also in der ganzen Schweiz. Gut, persönlich habe ich jetzt nicht so gute Erinnerungen an dieses Nidau.»

«Wieso denn das?»

«Wir gingen da immer in eine Beiz zum Zmittag, den Namen weiss ich nicht mehr. War grad neben dem Elektronikladen, wissen Sie wo? Vis-à-vis ein Schmuckladen mit so buntem Klimbim im Schaufenster, die Inhaberin eine sehr freundliche. Eh ja, die Wirtin hatte einen Hund, so einen Appenzeller, würd ich meinen. Der meinte wohl, er müsse das Restaurant beschützen wie ein schottischer Hund seine Schafherde, diese schwarzweissen … Jedenfalls, kaum stiegen wir aus dem Auto, bellte der uns an, aber wie.»

«Ja, die können, wenn sie wollen.»

«Glauben Sie mir, das war jedes Mal ein Zeugs, bis wir am Tisch sassen. Einmal hat er mich gebissen, dieser Kläffer.»

«Also so richtig? Tut’s immer noch weh?»

«Achwo, das war vor, warten Sie mal: Zweiundzwanzig Jahre dürften das schon sein.»

«Achso, achso.»

«Ürsu hiess der.»

«Der Hümpu?»

«Ja. Urs, der Bär. Komisch, dass ich mich noch an den Namen erinnere, nicht wahr? Aber wie die Beiz heisst, das weiss ich nicht mehr. Löcherhirni. Aber ich komme schon noch drauf.»

«Beissende Hunde, die vergisst man halt nicht so schnell.»

Beide lachen, derweil aus der Sprechanlage die Durchsage: «Das Zugteam der SBB begrüsst Sie im Intercity 51 von Biel nach Delémont, Laufen, Basel SBB. Der Zug hat derzeit eine Verspätung von circa sieben Minuten.» Der ohne Chäppi:

«Deutsche Verhältnisse hier.»

«Nicht grad.»

«Gottlob.»

Längere Pause. Der mit Chäppi:

«Ich hatte einen Schweizer Sennenhund.»

«Ohalätz.»

«Ja, die stellen noch etwas dar. Gute 60 Kilo bringen die auf die Waage.»

«Aber der hiess nicht etwa Ürsu?»

«Um Gottes willen nein. Benno.»

«Jetzt aber nicht wahr, oder? So heissen die doch alle!»

«Eben.»

Beide lachen. Längere Pause. Dann wieder der mit Chäppi:

«Eine schöne Strecke ist das, über Delémont.»

«Jaja, das ist so.»

«In Delémont hatte ich mal eine Bekanntschaft.»

«Jetzt sagen Sie! Dann sind Sie fliessend im Französisch?»

«Wo denken Sie hin! Sie kam aus Bern. Die hätte ich gern geheiratet, gopferteckl.»

«Aber dann ging es in die Hosen?»

«Das kann man wohl sagen. Sie hatte über Nacht einen anderen. Einen aus Le Locle. Nicht grad die feine Art, oder? Aber ist lange her. Und Sie, verheiratet?»

«Das wäre mir noch!»

Beide lachen, der mit Chäppi schlägt sich auf die Schenkel. Längere Pause. Der ohne Chäppi:

«Rössli, so hiess die Beiz in Nidau.»

«Hmm. Nicht dass ich wüsste.»

«Ist ja schon lange her. Vielleicht hat die jetzt auch zu. Wie die Metzg.»

«Jaja, ein Jammer ist das.»

Längere Pause. Der ohne Chäppi:

«Ich Löli, die Räblus war’s.»

«Nein, das ist nicht in Nidau, das ist auf der anderen Seite des Sees. Aber guter Spunten, würd ich meinen.»

«Jetzt habe ich ein Gstürm.»

«Macht nichts, in unserem Alter, gell. Soli, Delémont, hier steige ich aus.»

«Aha, immer wieder Delémont, was?»

Der ohne Chäppi zwinkert dem mit Chäppi zu, beide lachen. Der mit Chäppi:

«Einen schönen Tag wünsche ich. Ab jetzt fährt der Zug rückwärts.»

«Dann setze ich mich auf Ihren Platz. Alles Gute Ihnen.»

«Vergälts Gott und eine schöne Fahrt.»

Der Zug fährt an, der ohne Chäppi hockt sich auf den Fensterplatz gegenüber, holt das «20 Minuten» aus seinem Rucksack, eine Wasserflasche und das Handy.

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