Unsere Strasse

Serie: Orte der Begegnung
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen
Welt ein leiser, selbstverständlicher, informeller Austausch stattfindet.
MÜHLESPIELFELD Der Vormittag gehört denen, die arbeiten. Dem Pöstler, der seinen Elektroroller kurz hier parkiert, auf diesem Stück Quartierstrasse in Bern, wo statt eines Parkplatzes ein Mühlespielfeld auf den Boden gemalt ist. Wenig später dem städtischen Müllmann, der den Mülleimer leert und die Dosen vom Boden aufhebt. Den Sanitär- und Malerfahrzeugen, der Spitex und der DHL, den Velos. Und hin und wieder sogar einem gewöhnlichen Auto. Der einzige Lastwagen, der sich durch diese Strasse wagt, ist die Kehrichtabfuhr.
Und wenn erledigt ist, was erledigt werden musste, sitzt ein junger Mann im Schneidersitz auf der Holzkiste, in der die Spielsteine lagern, rauchend und auf dem Handy tippend. Neben ihm auf dem Spielfeld jongliert ein zweiter mit Keulen. Hin und wieder gehen ein paar Worte hin und her. Auftritt eines verwuschelten Hundes mit seinem Besitzer. Mann eins und zwei sind begeistert, streicheln und – jöö! – kommen mit dem Hundehalter ins Gespräch. Die Magie der Zufallsbekanntschaft. Und dann ist da diese Freund*innengruppe, die ihren Sommer neben dem Mühlespielfeld zu verbringen scheint. Ein Handschlag, wenn jemand dazustösst, und einer, wenn sich jemand verabschiedet, auf einem E-Scooter oder mit einem Basketball unter dem Arm.
Gestern hätten zwei Musiker mit ihren Gitarren gejammt, erzählt meine Mitbewohnerin. Am offenen Küchenfenster lauschte sie dem Blues, am Ende applaudierte sie. Auch vis-à-vis klatschte jemand aus dem Fenster. Die beiden Männer schauten überrascht hoch, gaben ein schüchternes «Thank you!» zurück. Auch Grillfeste, erzählt eine Nachbarin, seien auf dem Mühlespielfeld schon gefeiert worden.
Ein früher Nachmittag ein paar Tage später, die Musiker sitzen auf der Bank und spielen wieder. Ein Mann auf dem Velo hält schwungvoll vor ihnen an. «So nice, guys!» Handschläge auch jetzt. «Have fun!», schon fährt er weiter. Ihre Stücke werden zum Soundtrack meines Sommers.
Wenige Meter weiter ist die Quartierbeiz. Trotzdem trinken viele ihre Cola oder ihr Bier lieber hier, allein auf dem Bänkli und im Treiben der Quartierstrasse eben vielleicht doch nicht einsam. Manchmal picknickt und döst dort eine Frau, ihr Hab und Gut dabei, das Zuhause immer da, wo sie gerade ist.
Eines der Geheimnisse ist die Nähe von Bank und Spielfeld. An einem frühen Sonntagabend mitten im Sommer, eine Gruppe beim Bänkli, daneben verschieben ein Mann und eine Frau die schwarzen und weissen Spielsteine. Das Nebeneinander geht in ein Miteinander über, als sich seine Niederlage abzeichnet. Er will das Spiel mit lauten Argumenten abbrechen, doch sie bleibt ruhig. Und bekommt Unterstützung von der Frau vom Bänkli. Kurz darauf ruft die Spielerin: «Gewonnen!» – «Ja, wer hätte das gedacht?» Gespielter Ärger beim Mann, vielstimmiges Lachen. Zwei Freund*innen der Mühlespieler*innen stossen mit Gebäck und Bier dazu. Apéro auf der Holzkiste. Stunden später, die Apéröler*innen sind weg, da steht die Bänkli-Gruppe mit den Spielsteinen auf dem Feld, erklärt sich gegenseitig die Regeln.
Der Zauber des Mühlespiels ist seine Einfachheit. Anders als beim Schach können alle über den nächsten Zug mitdiskutieren und über die beste Strategie fachsimpeln. Und anders als beim Mühlebrettspiel können auf der Strasse nicht nur zwei, sondern vier, fünf, sechs Leute zusammen spielen. Und nachher stellen immer alle die Steine zurück in die Holzkiste. Für die nächsten, die kommen.
Eines Abends spiele ich eine Partie Mühle mit meinem Vater. Nach vielen Jahren mal wieder. «Sieht nicht gut aus für dich», ein Mann auf dem Bänkli fühlt mit mir mit. Und wie ich so auf der Strasse stehe, einen meiner Spielsteine in der Hand, erinnere ich mich an die Unbeschwertheit der endlosen Abende in der Kindheit. Statt meines Vaters, der mich nun fragt: «Noch eine Runde?», war es damals in einem anderen Quartier ein «Chunsch o no use cho spiele?» von anderen Kindern.
Meistens war irgendein Kind aus der Nachbarschaft sowieso schon draussen. Schutte auf der für Autos gesperrten Seitenstrasse, Röiber u Poli rund um die Häuser, Velorennen und Lütistreiche. Und heute? Wann erlaube ich mir schon zu spielen auf der Strasse? Aus dem Moment und der Lust heraus?
Ich möchte es viel öfter tun.