Im Wald beginnt die Heimat

Eine Geschichte über ein toskanisches Bergdorf, über das Saisonnierstatut und die Trente Glorieuses in der Schweiz. Unsere Autorin schreibt ihrer verstorbenen Grossmutter einen Brief.

05.11.2025TEXT: GIULIA BERNARDI, ILLUSTRATIONEN: GERD KLEINE-BLEY

Cara Nonna,

Wenn ich an dich denke, dann sehe ich dich im Garten, wie du dich bückst, mit zittrigen Händen am Unkraut reisst, es zur Seite wirfst, fast etwas verärgert scheinst, dass es so unablässig wächst, dass es dich wahrscheinlich noch überleben wird. Dass du sowas denken würdest, stelle ich mir vor, würde irgendwie gut zu dir passen, weil in der wortkargen Landschaft deiner Sprache auch immer eine Weisheit lag, die schon viel gesehen hatte und sogar in die Zukunft blicken konnte.

Wenn ich an dich denke, dann sehe ich eine Frau, die immer arbeitet, immer in Bewegung ist, durch den Garten zum Beispiel, nie spazierend, sondern zielstrebig, ein Blick über den Zaun zur Nachbarin, ein kurzer Wortwechsel, während du den Gartenschlauch entwirrst, die blau-violetten Hortensien giesst, täglich und immer abends, weil es dir im Sommer selbst in diesem Bergdorf des toskanischen Apennins viel zu heiss ist. Und wenn du wegen der Hitze mal nicht im Garten bist, dann schälst du in deiner in die Jahre gekommenen Küche, auf dem Stuhl vor dem kleinen Fernseher, Kartoffeln für das Abendessen. Während du da sitzt, stehe ich in der Tür, sehe dich in deiner karierten Schürze, mit deinen weissen Locken, blicke auf deine Hände, die mir die Welt erzählen, und wünschte mir, mehr Zeit mit dir gehabt zu haben.

Judasohr – Frost macht dem Pilz nichts aus, er wächst im Winter oder Frühling an Laubholz, meist an alten Holunderstämmen. Er ist nicht nur ein guter Speisepilz, man sagt ihm zahlreiche vitalisierende sowie heilende Wirkungen nach. Illustration: Gerd Kleine-Bley

Deine Hortensien gibt es noch heute. Ich war diesen Sommer da, selbst nach über zwanzig Jahren scheint alles wie damals, das Haus, die holprige Strasse, die verwunschene Wiese hinter dem Haus, der Wald gleich gegenüber, in dem mein Bruder und ich mit dir Pilze suchten, die unter dem Boden Stränge und Netze spannten, die die für uns sichtbare Welt zusammenhielten. Wir sammelten Kastanien, klaubten sie aus ihren stacheligen Schalen, wühlten durch die toten Blätter, kletterten auf Hügel mit feuchter Erde an den kleinen Händen, suchten nach Spuren von Wildschweinen, nach den Fliegenpilzen unserer Märchen, wobei du uns immer ermahntest, mit den Augen und nicht mit den Händen zu schauen. Du wusstest genau, wo man die richtig guten Pilze findet, funghi porcini e gallinacci, Steinpilze und Eierschwämme, und dass sie am besten unter bestimmten Bäumen wachsen, die nur du gekannt und die du nur mit uns geteilt hast.

«Vai a funghi?», fragten die Menschen einander in den schmalen Gassen des Bergdorfs oder auf dem erdigen Weg, der in die herbstlichen Wälder führte, weil man sich hier eben kannte, und weil hier alle Pilze sammelten, auch damals während des Kriegs, als das Gebiet von den Nationalsozialisten besetzt wurde, die Nonno auf der Strasse mal das Mehl weggenommen haben, so erzähltest du es uns, und auch nach dem Krieg, als es nichts, wirklich nichts zu essen gab. Von dieser Zeit waren in deinen Erzählungen nur Bruchstücke übrig, ein paar Anekdoten aus deiner Jugend: Dass du nie gelernt hast, Velo zu fahren, dass es nur einen Ort zum Tanzen gab.

Stinkmorchel –Der Pilz wächst in Mischwäldern ab Frühling bis Spätherbst als «Ei» (nur dieses ist essbar), erst später erfolgt das Längenwachstum und dann setzt der aasartige Gestank ein. Achtung: Der tödlich giftige Knollenblätterpilz wächst aus einem ähnlichen «Ei». Illustration: Gerd Kleine-Bley

Der Schauplatz dieser Erzählungen war immer Italien, immer la montagna, nie die Schweiz, obwohl du dort zwanzig Jahre verbracht hast. Heute weiss ich, dass Nonno 1948 als Saisonarbeiter rekrutiert wurde, so nannte das die Schweiz. Den rechtlichen Rahmen dafür legte ein Abkommen mit Italien, das im Juni desselben Jahres in Kraft trat. Im November wurde Nonno von der Firma Brown, Boveri & Cie. (BBC) in Baden als Schlosser eingestellt, mit ihm am selben Tag weitere 83 Arbeiter*innen, mehrheitlich aus der gleichen, armutsbetroffenen Provinz. Das ist einem der «Arbeiter-Verzeichnisse» im Archiv der BBC zu entnehmen, die den Ein- und Austritt der Arbeiter*innen verzeichnet. Überliefert sind in dieser Form lediglich die Jahre 1947 bis 1964. Allein in dieser Zeit, allein in dieser Firma wurden über 40 000 Arbeiter*innen erfasst. Die Schweiz rekrutierte im grossen Stil, es waren die Trente Glorieuses. 1950 folgte euer ältester Sohn, damals 14 Jahre alt. Auch er arbeitete bei BBC, lebte eine Zeit lang in der gleichen Saisonnierbaracke wie Nonno, gleich neben der Fabrik, weil das als praktisch und effizient galt, weil der Aufenthalt der Arbeiter wie die Baracken selbst ohnehin temporär, ohnehin prekär war.

Der Aufenthalt war für Saisonarbeiter*innen auf neun Monate beschränkt, danach hiess es: Zurück ins Herkunftsland! Eine erneute Einreise war nur mit gültigem Arbeitsvertrag möglich, nur nach einem Aufenthalt von mindestens drei Monaten im Ausland. So sah es das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) vor, das 1934 in Kraft trat und auch das Saisonnierstatut regelte. Das Rotationsprinzip, das diesem Gesetz zugrunde lag, erklärte Menschen zur Manövriermasse. Sie waren auf Abruf da, entrechtet, entmenschlicht und vor allem eines: jederzeit abschiebbar. Und weil nicht vorgesehen war, dass sie bleiben, brauchten diese Menschen auch keinen festen Wohnsitz, keine langfristigen Beziehungen, kein Leben mit ihrer Familie. Letzteres wurde nicht nur in der Schweiz verunmöglicht, sondern auch im Herkunftsland; auch dort war der Aufenthalt temporär und durch lange Unterbrüche geprägt.

Kuhmaul – Der Pilz, dessen schleimige Hutoberfläche an das feuchte Maul einer Kuh erinnert, wächst vom Frühsommer bis zum Herbst als Symbiosepartner von Fichten. Er gilt als sehr schmackhaft, vor dem Verzehr zieht man die schleimige Huthaut aber besser ab. Illustration: Gerd Kleine-Bley

Für dich und Nonno, so meine Vermutung, ging das etwa drei Jahre so. Du warst drei Jahre alleinerziehend im Nachkriegsitalien, hast dich um euer damals jüngstes Kind gekümmert, um das Zuhause und die Verwandtschaft, hast sichergestellt, dass es einen Ort gab, an den zurückgekehrt werden konnte. Und wenn ich mir das so vorstelle, dann denke ich, dass auch du wie ein Pilz warst, der tiefgreifende Stränge der Verbundenheit schuf, ein Netz der Fürsorge, wovon ich in den Familiengeschichten nie hörte. Dann, 1951, hast auch du einen Arbeitsvertrag als Saisonarbeiterin bei BBC erhalten, du warst 38 Jahre alt. Der Familiennachzug war noch immer nicht erlaubt, was euch dazu zwang, euer jüngstes Kind illegal über die Grenze zu nehmen, es zu verstecken, jene Gewalt auszuführen, die im ANAG impliziert war, aber nicht erwähnt wurde. Denn der «Grad [der] Überfremdung», so hiess es in der dazugehörigen Vollziehungsverordnung, sollte nicht überschritten werden. Und die Überfremdung, das wart ihr: die Arbeitskräfte, die eine Infrastruktur aufbauten, die nicht für sie bestimmt war. Ein illegalisiertes Kind geht nicht zur Schule, geht nicht auf den Spielplatz, darf nicht krank sein.

In den Archiven ist wenig über euch dokumentiert. Im Stadtarchiv in Baden nur Daten der Ein- und Ausreise, der Arbeitsort, der Wohnort, die Anzahl Kinder. Im Staatsarchiv des Kantons Aargau finde ich nicht einmal solche administrativen Fakten, keine Spur eurer Existenz. Die Akten, die die Fremdenpolizei über euch angelegt hatte, gibt es nicht mehr, soll heissen: wurden vernichtet. Was ebenfalls fehlt, ist eure Perspektive, euer Leben, das auf keine Karteikarte passt, von keinem Kontrollbuch wiedergegeben werden kann: euer Leben als Arbeiter*innen, als Eltern, als Ehepaar. Irgendwann habt ihr einen besseren Aufenthaltsstatus bekommen, von A zu B, von einer Saison- zu einer Jahresaufenthaltsbewilligung, nach zehn Jahren schliesslich C, die Niederlassungsbewilligung. Endlich hattet ihr eine Wohnung, die ihr auch wirklich einrichten konntet, konntet Freund*innen haben, deren Abschied ihr nicht schon beim Kennenlernen befürchten musstet. Ihr hattet es geschafft, ihr wart die Protagonist*innen eurer eigenen Erfolgsgeschichte, durftet bleiben, durftet ankommen.

Ich stelle mir vor, dass die Zeit auch für dich plötzlich anders lief, nicht mehr nach dem Takt, den das Gesetz vorgesehen hatte – neun Monate, drei Monate, die Frist ist abgelaufen! –, du sie neu für dich entdecken konntest. Ich stelle mir vor, dass du wieder in den Wald gegangen bist, ganz bei dir warst, beim Geruch der Erde, bei deinen Schritten durch das Laub; du vielleicht Trost oder die einst verlorene Vertrautheit gefunden hast, die Stücke deiner zerbrochenen Welt. Ich stelle mir vor, dass du im Wald neue Orte gefunden hast, die dir von neuen Menschen gezeigt worden waren, so, wie du sie uns einmal zeigen würdest. Und dass da auch endlich wieder die Pilze waren, diese magischen Wesen, die dich an die Heimat erinnerten und vielleicht vermochten, auch diesen Ort zu einem Zuhause werden zu lassen. Ich stelle mir vor, dass du mit einem sorgsam ausfindig gemachten Fund zurück in eure Wohnung gegangen bist, in eure warme Küche, bald gefüllt mit dem Geruch von Butter und angebratenen Zwiebeln. Ich stelle mir vor, die Erzählung wäre hier zu Ende, die Erfolgsgeschichte tatsächlich eine.

Lilastieliger Rötelritterling – Der Pilz wächst im späten Herbst auf Wiesen. Rötelritterlinge müssen gut durchgebraten werden, weil sie wie viele andere Pilze roh giftig sind. Der Lilastielige Rötelritterling ist einer der schmackhaftesten unter ihnen. Er ist selten und wird besser geschont. Illustration: Gerd Kleine-Bley

1970 stimmten die Schweizer Bürger – das Frauenstimmrecht gab es noch nicht – über euch ab. 300 000 bis 350 000 «Ausländer» sollten ausgeschafft werden, ausgenommen waren jene mit Saisonnierstatut. Die «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach wurde knapp abgelehnt, Folgen hatte sie trotzdem. Weil ihr trotz Niederlassungsbewilligung gezittert habt, weil euch, so stelle ich mir vor, die bürokratische Schweizer Sprache befremdlich vorkam, weil die Erfahrung euch lehrte, auf alles vorbereitet zu sein, weil euch die 46 Prozent Ja-Stimmen klar machten: Ihr seid hier nicht willkommen.

Nach Schwarzenbach seid Nonno und du zurück nach Italien, wie so viele andere, ihr habt die Koffer gepackt, das Leben ab- und wieder aufgebaut, einmal mehr.

Wenn ich heute an den Wald gegenüber von deinem Haus denke, an die Pilze und ihr unterirdisches Netz, die den Wald zum magischen Ort meiner Kindheit machten, dann denke ich, dass das Unrecht dieser Welt ihn entzaubert hat, dass so viel mehr unter diesem Boden verborgen liegt: ein Netz aus eng verwobenen Verletzungen, das dichte Schweigen der Kriegs- und Nachkriegsjahre – über den Faschismus, die Besetzung, das Saisonnierstatut, über die Geschichte, in der ihr Teil der Tätergesellschaft und Opfer gleichzeitig wart. Ein Netz, so engmaschig, dass ich, ehe ich mich versehe, heute darüber stolpere und mich frage, welchen Umgang ich damit finden möchte.

Ich stelle mir vor, dass ich mit all dem nicht alleine bin, mich dieser Gedanken mit dir annehme, dass wir in den Wald gehen, während du dich wunderst, dass ich so gross geworden bin und du noch immer gleich alt bist. Wir suchen, ziehen vorsichtig Pilze aus dem Boden, und mit ihnen vielleicht eine Erinnerung, von der du mir noch nicht erzählen konntest.

In Gedanken bin ich bei dir,
La tua nipotina

Über den Illustrator

GERD KLEINE-BLEY, 67, illustrierte und beschrieb die Pilze. Er ist auch Sachverständiger für Pilze, wie Pilzkontrolleure in Deutschland heissen, und unterstützt Hempels, das Strassenmagazin in Schleswig-Holstein, ehrenamtlich. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von HEMPELS/INSP.NGO.

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