Berge: Neben der Skipiste, über dem Dorf
Serie: Orte der Begegnung
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen
Welt ein leiser, selbstverständlicher, informeller Austausch stattfindet.
Am Rand des Dorfes im Berner Oberland, da wo sich Chalet an Chalet reiht und auf den Parkplätzen die Autos Nummernschilder von überallher haben, führt ein kleiner Weg in die Höhe. Ich kenne ihn, ich bin ihn schon oft gegangen. So viel pudrigen, luftigen, knietiefen Schnee habe ich dort aber schon lange nicht mehr gesehen. «Sie haben aber was vor», kommentiert ein Mann, als sein Hund und wir uns auf dem schmalen Schneetrampelpfad kreuzen. Ich grüsse ihn, verstehe aber nicht ganz, was er meint, ich habe eine kleine Runde vor, kaum eine Stunde, will einfach kurz an die frische Luft. Vielleicht meinte er meine Jeans, die nun voller Schnee werden dürfte.
Ich steige den steilen Hang hinauf, jeder Schritt knirscht. Schwer vom Schnee hängen die Äste der Tannen tief. Auf der anderen Seite des Tales Gipfel, die gerade noch die letzten Sonnenstrahlen abbekommen. Feine Wolken, rosa und grau. Eben war ich noch im Trubel des Dorfes, selten im Jahr sind so viele Menschen da, und jetzt ist es so still, dass ich höre, wie sich die kleinen Eiszapfen einer Tanne, die wohl vorhin noch in der Sonne stand, leise tropfend Richtung Boden verabschieden. Die Luft, die ich einatme, ist kalt und frisch, jeder Atemzug schmerzt leicht und fühlt sich zugleich so sehr nach neuem Sauerstoff, nach Leben an wie selten. Die Erde ein Gesamtkunstwerk, und ich bin Teil davon.
In diesem Moment könnte ich für immer so weitergehen. Zusammen mit mir und zusammen mit dieser Welt, die genau jetzt und genau hier einfach unfassbar schön ist. An der es nichts zu ändern gibt, der es nichts hinzuzufügen gibt.
Auf einer Anhöhe, kurz nach einer Alphütte mit Brunnen, die Holzfassade von vielen Sommern längst im dunkelsten Braun, kommen mir zwei Menschen entgegen, lachend und raufend werfen sie sich Schneebälle um die Ohren. Wir grüssen uns und wir strahlen uns an. Ich glaube, in dem Augenblick auf dieser Anhöhe, mit Blick übers Tal und zur Bergkette, könnte ich mich mit so gut wie jedem Menschen verbunden fühlen.
Warum fühlte sich meine Brust, dieser Raum um mein Herz, in diesem Moment schier riesig an? Und warum passiert mir das in der Stadt nicht auch? Ich erinnere mich an eine Skitour, bei der wir stundenlang schweigend hintereinander über einen Gletscher aufstiegen. Um uns herum kilometerweit die Gletscherebene, in der Ferne imposant aufragende Bergflanken und hoch oben in der Luft ruhig wirbelnde Alpendohlen. Was fühlt die Alpendohle gerade, was denkt sie wohl? Könnte ich ein anderes Lebewesen sein, dann gerne einer dieser Vögel hoch über dem Aletschgletscher, dachte ich. Diese Freiheit, diese Kraft, diese Schönheit! In dem Moment, inmitten dieses Panoramas, das die Grösse dieser Welt erahnen liess und darin das Selbst verschwindend klein, federleicht und flüchtig, empfand ich Ehrfurcht und Demut. In «Lieben» denkt die Politikwissenschaftlerin und Autorin Emilia Roig über die Beziehung der Menschen zur Natur und zu den Tieren nach und fragt, wen wir meinen, wenn wir «wir» sagen. «Ich schöpfe grossen Trost aus dem Wissen, dass alles Leben derselben Quelle entspringt und dass wir für immer mit dieser Quelle und all ihren Erzeugnissen verbunden sind», schreibt Roig.
Der Eiger Bergkäse, der sei richtig gut, preist neben mir einer und holt mich aus meinen Gedanken. Ein Holzhüttli neben der Skipiste, Mittagspause mit Brot, veganem Landjäger, Tee. Keine Wolke am Himmel. Wir sind nicht die Einzigen, die hier selig das Gesicht in die Sonne strecken. Eine Frau, nicht weit weg auf einem umgedrehten Snowboard im Schnee liegend, ruft in unsere Richtung: Ja! Den finde sie auch richtig gut. Schön rezent. Ob man den Chällerhocker kenne. «Wenn du den Eiger Bergkäse magst, dann bestimmt auch den, ist mein liebster», sagt sie und reicht uns ein Stück. Ja, tatsächlich! Etwas runder im Geschmack und doch chüstig.
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein leiser, selbstverständlicher, informeller Austausch stattfindet.