Die Krankheit der Angst
Anonyme Alkoholiker
In den Treffen der Anonymen Alkoholiker werden nicht nur Erfahrungen ausgetauscht, sondern auch die grossen Gefühle auf den Tisch gelegt. Einblicke in eine Art Lebensschule.
Ein Sitzungszimmer eines Altbaus in einer kleinen Quar- tierstrasse, auf dem langen Tisch ist die Literatur der Anonymen Alkoholiker (AA) ausgelegt, auch das Blaue Buch ist dabei, über 400 Seiten dick: die Grundlage des Abstinenzprogramms, geschrieben 1935 von zwei Alkoholikern aus Vermont, USA, dem Börsenmakler «Bill W.» und «Dr. Bob», einem Arzt.
Sieben Personen sitzen hier an diesem Abend an ei- nem Tag irgendwann unter der Woche. Wir nennen die Personen, die in diesem Text noch genannt sein werden: Dario, Markus, Andrea, Regula und Lea. Manche fühlen sich wohler, wenn auch dieser Vorname fiktiv ist, andere gehen auch im Alltag offen mit ihrer Abhängigkeit um und treten gerne mit echtem Namen auf. Anonymität heisst bei den AA aber nicht bloss, dass man den Namen nicht nennt. Sondern auch, dass in den Meetings alles ausgeblendet wird, was nicht mit dem gemeinsamen Pro- blem zu tun hat – der Sucht. Sie macht aus diesen Menschen eine Gemeinschaft.
Manche kommen drei, vier Mal pro Woche in die Meetings, andere jeden Tag oder auch einfach ab und zu. Neuankömmlinge sind jederzeit willkommen. Das Blaue Buch definiert Alkoholabhängigkeit als Krankheit, die man bis zum Lebensende mit sich trägt, auch bei vollständiger Abstinenz. Aber: Man kann dafür sorgen, das erste Glas nie anzurühren. Jeden Tag aufs Neue, und jeden Tag nur für 24 Stunden, weil der Gedanke, nie mehr zu trinken, überfordert. Es gibt keinen Mitgliederbeitrag, am Schluss des Meetings steckt man ein paar Franken in eine Kasse, um die Miete und nötigsten Ausgaben zu bezahlen, das Meiste beruht auf Freiwilligenarbeit der Teilnehmer*innen. 47 Franken sind es insgesamt an diesem Abend, zu viel soll es nicht sein, denn es gilt: Niemand darf protzen.
Die sieben Personen, die heute in diesem Raum sind, legen ihre Abgründe auf den Tisch, ihre Sorgen, ihre Ängste, ihre Einsamkeit, ihr Hadern, sie reden über ihre
Verleugnungsstrategien, ihren Selbstbetrug, über ihre eigenen Verletzungen und diejenigen, die sie anderen zugefügt haben. Auch wenn es hier um Alkoholismus geht, scheinen bei Einzelnen Mehrfachsüchte durch – andere Drogen, die aber nie im Detail benannt werden. Worte können auch triggern. Ein Verlangen auslösen. Obsessi- onen klingen an, die Verstrickungen ins Milieu und in die Kriminalität ahnen lassen. Das Nachtleben, die Sucht nach Frauen, nach Sex, nach Drogen eben, die nie legal sind.
Markus ist der Sitzungsleiter, der Chairman, ein Mitglied der Gruppe, das von den anderen jeweils begrenzt auf ein Jahr gewählt wird. Er liest die Präambel des Blauen Buchs, wie jedes Mal in ihrem Meeting, er schweigt mit den anderen wie jedes Mal – um sich daran zu erinnern, wieso man hier ist. Er liest: «Anonyme Alkoholiker sind eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung vom Alkoholismus zu verhelfen. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.»
Keine Diskussionen, keine Ratschläge
Man liest reihum aus dem Blauen Buch, das wegen seines blauen Umschlags so heisst und wohl auch, weil es so ikonisch geworden ist wie die Bibel und deshalb keinen profanen Titel mehr braucht. Eigentlich heisst es «Anonyme Alkoholiker».
Zentral sind die «Zwölf Schritte», eine Anleitung zur Arbeit an sich selbst. Es heisst darin: «1. Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten. 2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, grösser als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. 3. Wir fass- ten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstanden – anzuvertrauen.»
Die umfangreiche AA-Literatur und die ritualisierten Abläufe wirken christlich, die Zwölf Schritte sind in einem raunenden Präteritum verfasst, in dem quasi ein Rückblick auf ein vergangenes Leben mitschwingt – aber auch die Aussicht auf ein neues. Viele hier im Meeting sind nicht religiös. Mit den Jahren wurde der christliche Hintergrund der AA denn auch neu interpretiert, offener, weltlicher. Für viele ist es heute eine Art von spirituellem Programm.
Im Meeting hebt die Hand, wer etwas sagen will, und die anderen schweigen, bis die Person mit Reden fertig ist: «Ich bin Andrea, ich bin Alkoholikerin. Man muss sagen, Gott wird in den Schriften sehr oft erwähnt. Als ich das erste Mal zu den AA kam, dachte ich: Ich will mich doch nicht bekehren lassen. Aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass das jede und jeder so fühlt, wie es für sie oder ihn stimmt.»
«Danke, Andrea», sagt die Gruppe.
«Ich bin Dario, ich bin Alkoholiker. Wenn ich in Gefahr bin, helfen die Gedanken an eine höhere Macht. Das kann der Geist sein, der hier drin herrscht. Die Gemeinschaft und die Offenheit und die Geborgenheit, die mich tragen. Danke fürs Zuhören.»
«Danke, Dario.»
«Markus, Alkoholiker. Als ich in Mexiko zum ersten Mal in ein AA-Meeting ging, hatte ich Angst. Ich sass gleich beim Ausgang, damit ich jederzeit wieder gehen konnte. Sie fragten, wer neu sei und baten mich aufzustehen. Das fand ich noch schlimmer. Und dann haben alle geklatscht und gesagt: Willkommen, Markus. Das war mir noch nie zuvor passiert. Als ich danach allein zuhause war, dachte ich: Soll ich nun später, soll ich den Dealer anrufen? Und am nächsten Morgen wachte ich auf und merkte: Ich habe nicht konsumiert.»
«Danke, Markus.»
Weitere Wortmeldungen. Keine Diskussion, keine guten Ratschläge. Es entsteht so ein sozialer Raum, in dem man sich nicht bewertet, nicht urteilt. Hierarchien und Status bleiben draussen. Was die Anwesenden arbeiten, ob sie Kinder haben, in einer Einzimmerwohnung leben oder Immobilien besitzen oder welche Netflix-Serien sie gucken, wissen sie in der Regel nicht voneinander. Das erstaunt, zumal etliche hier seit Jahren oder Jahrzehnten dabei sind. Pause. Man geht kurz raus. Aber auch draussen vor der Tür hat niemand einen Nachnamen. Man spricht nicht darüber, wie es heute im Job lief. Nicht über Fussball. Nicht über Religion. Keine Diskussionen.
«Dario, Alkoholiker. Wenn es Diskussionen gäbe, würde es uns triggern, es könnte ungute Emotionen auslösen. Hier in der Laborsituation funktioniert das. Was mich aber schon immer wieder beschäftigt: Ausserhalb sind diese Trigger halt immer da.» – «Andrea, Alkoholikerin. Für mich sind die AA ein Lebensprogramm: Wie gehe ich überhaupt mit meinem Leben um? Und ich lerne, wie ich sel- ber funktioniere. Wie der Mensch per se – vielleicht auch anders als erwartet – funktionieren kann.»
Aus dem Raum sollte nichts Persönliches hinausgetragen werden, aber viele sind gerne bereit, später ausserhalb ihrer Meetings von sich zu erzählen.
Vergessen, wie beschissen das ist
Drei Frauen, die sich in ihrer Gruppe systematisch durch die AA-Literatur arbeiten, erklären, was das heisst: leben nach den zwölf Schritten. Wieso also das Rituelle, Formelhafte? Die Wiederholungen? Wieso sagt man bei jeder Wortmeldung: «Lea, Alkoholikerin»? «Es ist dazu da, dass du nicht vergisst. Dass du es immer wieder benennst und sagst: Ich habe dieses Problem», sagt Lea. «Wir haben eine Krankheit des Vergessens», sagt Regula. «Ich habe immer ganz schnell vergessen, wie schlecht es mir gegangen war. Wirklich, richtig vergessen. Ich glaube, jemand, der nicht süchtig ist, kennt das gar nicht. Der weiss, dass er einen Kater hatte, wie beschissen er sich gefühlt hatte. Bei mir war der schlimme Zustand spätestens bis am Abend ausgeblendet, als wäre nie etwas passiert.»
«Das Formelhafte hilft uns, dass es nicht einfach ein Plauderstündchen wird. Das Meeting muss Struktur haben», sagt Lea. «Zum Beispiel der Grundsatz ‹Erfahrung, Kraft und Hoffnung›. Erfahrung, das ist meine Geschichte. Und dann: Was gibt mir Kraft? Was bedeutet Hoffnung für mich? Man soll ja etwas für sich daraus ziehen können. Wenn ich erzähle, wie ich heute in die Migros einkaufen gegangen bin, bringt das niemanden etwas.» – «Ich denke, das macht uns als Gruppe aus, dass wir mehr oder weniger alle die gleichen Themen haben. Dass wir die gleichen Muster und Gefühle kennen. Kontrollverlust. Selbstmitleid. Groll. Angst. Masslosigkeit. Scham. Schuld», sagt Angela. «Wir haben sehr viele gemeinsame Verhaltensmuster, weil sie einfach auch unser Leben geprägt haben. Zum Beispiel, dass wir lügen mussten, um unsere Abhängigkeit zu verstecken. Ich selber war ja eine sogenannt funktionierende Alkoholikerin in einer normalen Gesellschaft. Da entwickelt man Strategien, um zu überleben.»
Abhängigkeit bedeutet auch Isolation. Sucht heisst Einsamkeit. Das weiss auch Markus, der Chairman, der sagt: «Ich wollte nicht aufhören zu trinken. Ich wollte aufhören zu leiden.» Er erzählt ein paar Tage nach dem Meeting draussen auf der Parkbank von sich. «In unserer Literatur steht, der Alkoholismus sei ein Symptom einer grösseren emotionalen Krankheit», sagt er. Die Verletzungen in der Kindheit, wie sie da beschrieben werden, spielen für ihn dabei eine zentrale Rolle. Er war ein unruhiges Kind, das durch das WC-Fenster aufs Dach hinaufstieg, als die anderen in der Kinderkrippe ihr Mittagsschläfchen machten. Immer nur Probleme.
Aber die eigentliche Erzählung beginnt zunächst mit einer Erinnerung an einen Samichlaus-Abend: «Wir waren vier Kinder. Der Vater sitzt dort drüben, wir vier sitzen hier auf dem Kanapee. Und die Mutter, die mich immer beschützt hatte und regelmässig Schläge bekam vom Vater, geht in diesem Moment trotzdem zu ihm hinüber. Sie lässt uns – ohne Schutz. Ah, der Markus hat nicht gut geschlafen, er hat nicht gut gegessen, ah, der hat das nicht gut gemacht, ah, und das auch nicht! Du bist ausgeliefert. Ich war drei oder vier Jahre alt. Und dann schaust du immer aus dem Augenwinkel zu den Eltern rüber, kommen sie dir helfen? Und sie kommen einfach nicht.» Aber natürlich ist es nicht der Samichlaus allein, der in den Alkoholismus führt. «Als ich vier Jahre alt war, hatte ich zum ersten Mal ein Messer in der Hand», erzählt Markus weiter. «Ich wollte einfach, dass es ein Ende nimmt. Ich schrie: Wer kann uns helfen, dass der Vater einmal aufhört, die Mutter zu schlagen?! Aber es kam niemand.»
Die unkontrollierbare Masslosigkeit
Es sind solche Erfahrungen, die bei den AA geteilt werden. Verletzungen, die man erfahren hat. Geschichten, in denen andere ihre eigene spiegeln und Verhaltensmuster erkennen können. Den eigenen Umgang mit Gefühlen verstehen, Reaktionen, Impulse. Oder begreifen, wie die Angst in die Sucht führen kann. Der vierte der «Zwölf Schritte» heisst: «Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.»
Bei Markus vermischten sich verschiedenste Abhängigkeiten, Alkohol, Drogen, letztlich bestand seine Krankheit aus einer unkontrollierbaren Masslosigkeit in allem, was er tat. Im Nachtleben war es nun Markus, der den anderen Angst einflösste. Dem die anderen ihr Geld liehen, weil sie sich davor fürchteten, dass er sonst zuschlägt. Immer übertreiben. Krasser sein als die anderen. Im fünften Schritt heisst es:
«Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.»
«Wir haben eine Besessenheit», sagt Markus. «Bei mir fing das jeden Tag so um 17, 18 Uhr an: Drogen, Drogen, Drogen. Und ich konnte das nicht abstellen. Ich sagte zu meinen Kindern: Hört zu, ich gebe euch das ganze Geld, versteckt es, gebt mir bitte nichts. Ich will nichts konsumieren, ich will daheimbleiben, ich will bei euch sein. Dann sind wir hingesessen, begannen einen Film zu schauen. Mein Sohn kannte mich genau. Wir fingen an, uns aus dem Augenwinkel anzuschauen. Und dann so nach zehn Minuten sagte ich: «Können wir nicht irgendwie …» Und der Sohn sagte: «Nein, du hast gesagt, ich soll dir nichts geben.» Ich dachte: Warum habe ich das gemacht, verdammt. Es ist ja mein Geld. Und dann nochmals: «So, jetzt musst du mir das Geld geben, sorry, es ist mein Geld.» Er wurde wütend, ging in sein Zimmer und knallte die Tür zu. Da liess ich mich von mir selber erniedrigen. Ich ging hin, schrie ihn an und machte einen Riesenskandal. Da ging die Tür auf und er warf mir das ganze Geld ins Gesicht. Dann kam das Schuldgefühl. Nachts wachte ich auf, weil das schlechte Gewissen anklopfte. Die Scham. Dann das Selbstmitleid. Der Frust. Der Groll. Und dann kam wieder der Alkohol.»
Er habe nicht zu trinken oder zu konsumieren aufhören wollen, sagt Markus. Er habe zu leiden aufhören wollen. Irgendwann ist er in die Kirche gegangen, in der letzten Hoffnung, Hilfe zu finden. Und hat da gemerkt, dass er nicht mal mehr wusste, wonach er suchen sollte. Unterdessen ist er zurück in der Schweiz, die er einmal mit einer Wut auf alles verlassen hatte. Und es ist nun genau zwanzig Jahre her, dass eine Gruppe von Menschen klatschte und sagte: «Willkommen, Markus.»