Wenn das Mitgefühl erstirbt
Das Massaker von Srebrenica, bei dem 8000 Bosniaken von bosnisch-serbischen Soldaten ermordet wurden, jährt sich zum 30. Mal. Warum die Frage, ob es sich um einen Genozid handelte oder nicht, alleine nicht reicht.
Vor dreissig Jahren – vom 11. bis zum 19. Juli 1995 – massakrierten bosnisch-serbische Einheiten unter der Führung von General Ratko Mladić in der Nähe der Stadt Srebrenica im Osten von Bosnien und Herzegowina über 8000 Bosniaken, alles muslimische Bosnier. Die Vereinten Nationen (UN) hatten das Gebiet im Zuge der Jugoslawienkriege, die 1991 begannen, zur Schutzzone erklärt, woraufhin 40 000 Bosniak*innen in Srebrenica Zuflucht suchten. Als die bosnisch-serbischen Truppen zu Tausenden aufmarschierten, sahen die 350 dort stationierten UN-Soldaten tatenlos zu. Viele der Verfolgten versuchten in bosnisch-muslimische Gebiete zu gelangen, andere flohen in die benachbarte Kleinstadt Potočari, darunter 25 000 Frauen, Kinder und ältere Menschen. Bereits am Abend des 11. Juli war von Massenvergewaltigungen muslimischer Frauen und Mädchen durch bosnisch-serbische Soldaten die Rede, in den Tagen darauf wurden die männlichen Bosniaken von den Übrigen getrennt, in Fabrikhallen oder Schulhäuser gesperrt und später in Lastwagen an entlegene Orte gekarrt, wo bosnisch-serbische Soldaten sie fesselten, nebeneinander aufreihten und exekutierten. Die Erschossenen waren Männer und Jungen im Alter zwischen 13 und 78 Jahren, auch ein Baby war dabei.
Den Opfern ihre Namen zurückgeben, wollen etwa die «Mütter von Srebrenica». Sie haben ihre Söhne und Männer beim Genozid verloren. Foto: Klaus Petrus
Monate nach dem Völkermord von Srebrenica endete mit dem Dayton-Friedensabkommen ein Krieg auf dem Balkan, der 200 000 Menschen das Leben kostete und zwei Millionen in die Flucht trieb. Die Ursachen dieses Konflikts sind komplex, er hat ethnische, religiöse, nationalistische sowie volkswirtschaftliche Wurzeln. Bis heute haben sich Opfer wie Täter auf «drei Wahrheiten» über die historischen Ereignisse geeinigt, auf eine bosniakische, eine kroatische sowie eine serbische. Entsprechend kontrovers sind die Einschätzungen der Kriegshandlungen, so auch des Massakers von Srebrenica, das als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gilt.
Die Absicht ist entscheidend
Juristisch geht der Begriff «Genozid» (oder die deutsche Übersetzung Völkermord), der 1944 vom polnisch-jüdischen Friedensforscher Raphael Lemkin geprägt wurde, auf die UN-Völkermordkonvention von 1948 zurück, die nach dem Holocaust verabschiedet wurde. Gemäss Art. II der Konvention gehören dazu unter anderem die «Tötung von Mitgliedern einer Gruppe», die «Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern einer Gruppe» sowie die «vorsätzliche Auferlegung lebensfeindlicher Bedingungen für eine Gruppe». Damit ein Kriegsverbrechen als Völkermord gilt, reicht es jedoch nicht aus, dass eine oder mehrere dieser Bedingungen erfüllt sind. Ausschlaggebend ist die Absicht hinter den Taten. Es muss bewiesen werden, dass Kriegsverbrechen willentlich ausgeführt wurden oder werden, um «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören», wie es in der Konvention heisst. Das ist im Übrigen der Grund, wieso die Anzahl der Opfer nicht ausschlaggebend ist für einen Völkermord. Ein solcher kann bereits vorliegen, wenn ein einziger Mensch ermordet wird – sofern es eine Absicht gibt, die Gruppe, der diese Person angehört, in Teilen oder als Ganzes zu vernichten.
In einer Fabrikhalle, in welche die Männer im Juli 1995 gesperrt wurden, erinnert ein Bild an einen der Getöteten. Foto: Klaus Petrus
Nur, wie kann eine solche Absicht nachgewiesen werden? Im Falle Srebrenicas waren es zum einen Äusserungen von Politiker*innen oder Militärs, die eine Auslöschung des bosniakischen Teils der bosnischen Bevölkerung befürworteten, und zum anderen die Systematik hinter dem Verbrechen, wie Vergewaltigung als Kriegswaffe oder die Exekution von Zivilist*innen. Obschon die Beweise dafür eindeutig waren, zog sich die Diskussion darüber, ob das Massaker von Srebrenica tatsächlich als Genozid einzustufen sei, über Jahre hin. So kam der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag erst 2007, also zwölf Jahre später, zu einem Entscheid – er bewertete das Massaker von Srebrenica als Völkermord –, und es dauerte weitere zehn Jahre, bis Ratko Mladić 2017 als Hauptverantwortlicher des Massakers zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Trotzdem ist der Genozid von Srebrenica weiterhin ein Politikum, er wird beispielsweise von serbischer Seite relativiert oder gar geleugnet. Es wird etwa argumentiert, dass nur männliche Personen getötet wurden und nicht alle bosniakischen Geflüchteten; zudem sei die Zahl der Ermordeten im Vergleich zum Holocaust (6 Millionen), zum Genozid in Armenien (1,5 Millionen) oder jenem in Ruanda (800 000) vergleichsweise niedrig. Zwar wird von serbischer Seite inzwischen eingeräumt, dass es sich bei Srebrenica um ein Fehlverhalten mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Zivilbevölkerung gehandelt habe oder, wie sich der serbische Präsident Aleksandar Vučić noch 2015 ausdrückte, um ein «monströses Verbrechen». Von Völkermord aber ist nicht die Rede. Ihn zuzugeben hiesse eingestehen, an einem Gewaltakt allerschlimmsten Ausmasses beteiligt gewesen zu sein.
Tatsächlich gilt der Genozid als «Verbrechen aller Verbrechen», wie das Ruanda-Tribunal drei Jahre danach, 1998, den Völkermord bezeichnete. Was auch erklären mag, weshalb kaum ein anderer Vorwurf im Kontext von Kriegshandlungen derart heftige politische, aber auch emotionale Reaktionen hervorruft.
Erst wenn die Opfer auf systematische Weise entmenschlicht werden, werden Verbrechen von solchem Ausmass möglich. Foto: Klaus Petrus
«Völlige Zerstörung»
Jüngstes Beispiel ist der Krieg in Gaza. So hat Südafrika Ende Dezember 2023 beim IGH eine Klage gegen Israel wegen Verdachts auf Genozid an den Palästinenser*innen im Gazastreifen eingereicht. Inzwischen gibt es zahlreiche Genozid-Fachleute, die diesen Vorwurf ebenfalls erheben, darunter jüdische Historiker wie Amos Goldberg, Raz Segal oder Omer Bartov. Sie nennen die Zahl der Opfer – laut UN wurden seit dem Massaker der Hamas an 1200 israelischen und ausländischen Personen im Oktober 2023 allein im Gazastreifen 52 000 Palästinenser*innen getötet, siebzig Prozent sind Frauen und Kinder –, die wiederholte und gezielte Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen und Moscheen, das Lahmlegen der Strom- und Wasserversorgung oder das Aushungern der Zivilbevölkerung. So zuletzt zwischen dem 2. März und dem 20. Mai, als die israelischen Behörden sämtliche Hilfslieferungen mit Nahrung in den Gazastreifen blockierten. Gemäss Internationalem Strafgerichtshof (IStGH), wie der IGH ebenfalls in Den Haag, schafft Israel damit «gezielt Lebensbedingungen, die auf die Zerstörung eines Teils der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen abzielen».
Was der IGH wie auch Fachleute als Genozid-Absicht deuten: Eine Reihe von politisch sowie militärisch Verantwortlichen befürwortet die Auslöschung der palästinensischen Bevölkerung zumindest im Gazastreifen unverhohlen. Darunter sind Itamar Ben-Gvir – er wurde wegen Rassismus rechtskräftig verurteilt, ist aber immer noch Mitglied des israelischen Parlaments –, Staatspräsident Izchak Herzog, von dem die Losung «Wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen» stammt, Verteidigungsminister Israel Katz, der im März die «völlige Zerstörung» des Gazastreifens in Aussicht stellte, oder sein Vorgänger Yoav Galant, der die Palästinenser*innen wiederholt als «Tiere» bezeichnet hat und gegen den der IStGH im November 2024 – wie auch gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und mehrere Hamas-Führer – einen Haftbefehl erliess. Ob Israel tatsächlich wegen Genozids an den Palästinenser*innen verurteilt werden wird, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen; bestimmt würde es, wie auch im Falle von Srebrenica, Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis entsprechende Urteile gefällt werden.
Geht es um Kriegsverbrechen, sagt der israelische Soziologe Moshe Zuckermann, könne es keine Hierarchie von Gräueltaten geben. Foto: Klaus Petrus
Genozid ist über die Gerichtssäle hinaus längst zu einem politischen Kampfbegriff geworden. Was sich auch daran zeigt, dass die Anerkennung von Völkermorden durch Regierungen oft willkürlich anmutet oder eher den eigenen Interessen dient. So streitet die Türkei nach wie vor den Genozid von 1915 und 1916 an der armenischen Bevölkerung ab, für den sie verantwortlich ist, verlangt von der serbischen Regierung jedoch mit Vehemenz die Anerkennung des Massakers von Srebrenica als Völkermord. Auch Israel weigert sich bis heute, eine Resolution zum Genozid an den Armenier*innen zu unterzeichnen. Für den israelischen Soziologen Moshe Zuckermann geschieht dies in erster Linie aus der Sorge heraus, die Einzigartigkeit des Holocausts könne dadurch infrage gestellt werden; dabei könne es, geht es um Kriegsverbrechen, keine Hierarchie von Gräueltaten geben.
Ob eine Regierung einen Völkermord anerkennt, kann von eigenen Interessen abhängen. Foto: Klaus Petrus
Problematisch ist, dass der Genozid als «Goldstandard des Bösen» (Hannah Arendt) dazu führen kann, mit moralisch aufgeladenen Diskussionen von offenkundigen Kriegsverbrechen abzulenken. Die Frage, ob es sich um einen Völkermord handelt oder nicht, ist wichtig und muss beantwortet werden. Genauso wichtig aber ist die Pflicht aller Staaten, die hinter dem Völkerrecht stehen, derlei Kriegsverbrechen vorzubeugen und zu verhindern. Andernfalls droht man zum Komplizen des Grauens zu werden – und nimmt irgendwann hin, dass Opfer – im Fall von Völkermorden fast ausschliesslich Zivilist*innen – auf systematische Weise entmenschlicht und Verbrechen von solchem Ausmass möglich werden. Eine extreme Ausprägung solcher Entmenschlichung sind Feindbilder, die dem Gegenüber alles absprechen, was es verwundbar macht – und damit zu einem Wesen, welches man selber ist. Menschen werden zu Tieren, mehr noch zu Sachen.
Wie das überhaupt möglich ist, hat der französische Journalist Jean Hatzfeld in einem einzigartigen Dokument festgehalten, das Gespräche mit Tätern des Ruanda-Genozids versammelt und dabei auf erdrückende Weise nachzeichnet, wie organisiertes Morden «normalisiert» wird. Dass Menschen, zumal unschuldige, mit grosser Gleichgültigkeit und Selbstverständlichkeit gequält und ermordet werden, davon berichten Augenzeugen von Kriegsverbrechen immer wieder. Umso erschreckender, wenn die Täter von heute, wie oft bei Genoziden, gestern noch die Nachbarn ihrer Opfer waren. Was nur dann keine Rolle mehr spielen kann, wenn jedes Mitgefühl erstirbt.
Gestern waren sie vielleicht noch die Nachbarn ihrer Opfer, heute sind sie Täter. Foto: Klaus Petrus
Um Mitgefühl geht es den «Müttern von Srebrencia», einem Opferverband von Frauen, die ihre Männer und Söhne beim Genozid verloren haben. Sie wollen nicht nur alle für den Völkermord Verantwortlichen vor Gericht bringen, sondern auch daran erinnern, dass es Menschen waren, die massakriert wurden, und nicht bloss «Bosniaken», eine anonyme ethnische Gruppe. «Ohne unser Engagement hätten viele der Opfer keine Namen», sagte die inzwischen verstorbene Gründerin der Organisation, Hatidža Mehmedović, deren Mann und zwei Söhne ermordet wurden, kurz nach der Verurteilung des Kriegsverbrechers Mladić im Jahr 2017. «Es geht uns nicht um Rache, es geht uns um Gerechtigkeit, um Menschlichkeit.»