Das Beste an der Nachbarschaft

09.10.2024TEXT: SARA WINTER SAYILIR, ILLUSTRATIONEN: PIRMIN BEELER

Serie: Orte der Begegnung

In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein leiser, selbstverständlicher, infor- meller Austausch stattfindet.

DAS CAFÉ: Es liegt gegenüber, und ich kann aus meinem Wohnzimmer in die grossen Ladenfenster schauen. Es besteht aus einem Raum, nicht allzu gross, mit quadratischen dunklen Holztischen, die bei Bedarf zusammengeschoben werden. Hinten eine Bar und im Sommer ein Gelato- Kühltresen. Das Angebot ist italienisch, mittags bekommt man hausgemachte Pasta, auf der Karte stehen noch keine Alternativen zu Kuhmilch. (Vielleicht gibt es sie, wenn man fragt.) In einer Glasvitrine stehen Focaccia, Arancini und eine Torte.

Angenehm unspektakulär ist dieser Ort, weder hipsterig noch altbacken. Betty Boop steht als Statue herum, wirkt aber nicht unangenehm. Auch die Preise sind normal.

Neulich sass hier ein Malermeister mit seiner Lernenden – so glaubte ich zumindest: Ein Mann und eine Frau mit geschätzten 25 Jahren Altersabstand in der gleichen weissblauen, farbfleckigen Arbeitskluft unterhielten sich bei Kaffee und Gipfeli. Eine heile Welt, in der Handwerker*innen sich das leisten können: die Pause, den Kaffee. Auch Bauarbeiter in Signalorange sieht man hier. Idyllisch wirkt das, wie in einem Wimmelbuch.

Hundebesitzer*innen kehren ein auf ihrer Runde und halten einen Schwatz, mal miteinander, mal mit Cafébesitzer Domenico. Früher, als die Blindenhundeschule noch nebenan war, sah man ganze Rudel Labrador-Retriever samt ihren Ausbilder*innen dort sitzen. Es wurde gefachsimpelt und streichelwilligen Kindern die eine oder andere Frage beantwortet. Heute zeigt sich hier manchmal die schöne Dame aus dem Haus um die Ecke mit ihrem eleganten schwarzen Begleiter auf vier Beinen – früher waren es mal zwei.

Die Strasse ist laut, das Tram fährt vorbei. Dennoch lesen die Gäste in Ruhe die Zeitung, geniessen die dazwischenliegende Stille. Es ist nicht die Sonnenseite, auf der das Café liegt. Seitdem es aber immer wärmer wird, weiss man dies zu schätzen. Domenico, der aus dem italienischen Süden stammt, begrüsst die meisten Gäste mit Namen, vielen gibt er die Hand, fragt nach dem Befinden. Manchen legt er die andere zusätzlich auf die Schulter. Er ist gern Gastgeber, aber keiner von der lauten Sorte.

Mittags steht häufig ein grosser Mann auf den Tresen gestützt bei einem Glas Weisswein. Er ist schon älter, ich kenne ihn nicht von der Strasse, vielleicht fällt er mir aber auch nur hier drinnen auf? Was ihn wohl so oft hierher führt? Domenico wird Bescheid wissen – wie viele Lebensgeschichten aus dem Viertel bei ihm und seiner Frau Giusy zusammenlaufen. Sie sind Familie und Treffpunkt, und für manche sogar Therapieplatz.

Etwas über 20 Tische gibt es hier, diejenigen draussen werden je nach Wetter und Gemütslage schon ab 7 Uhr aufgestellt. Mittags ist es voll und weiss gedeckt, die Teigwaren sind eine Eigenkreation und exzellent – Lehrer*innen der angrenzenden Primarschule, Erzieher*innen, aber auch zahlreiche Anzugträger und Büroangestellte reservieren regelmässig. Wo sind eigentlich all die Büros, die am Mittag derart viele Hungrige ausspucken? Einmal hörte ich am Nebentisch einen jungen Politiker seine Ideen wohl mit den Eltern diskutieren, oft kann man sich der Nähe wegen dem Zuhören kaum entziehen. Fast hätte ich mich eingemischt.

Samstags sitzen hier die Jungs, die auch schon über 40 sind, mal mit, mal ohne ihre Kinder und Frauen. Manche kommen mit dem Töff, vielleicht Piaggio-Fans wie Domenico, einige tragen Hipsterbärte mit grauen Strähnen. Eine andere Gruppe Stammgäste startete während der Pandemie eine Hilfsaktion, man konnte Essen bestellen, das dann durch die Gruppe im Namen des Cafés ausgeliefert wurde. Eine Solidaritätsbekundung mit denen, deren Existenz bedroht war. Selbst mich hat die Aktion erreicht, obwohl ich niemanden aus der Gruppe kenne. Das wundersame Band der Nachbarschaft – nicht Freund*in, nicht Unbekannte*r.

Als alles wieder öffnete, war auch das Café voll. Und auch die ältere Frau aus dem Nachbarhaus kam wieder vorbei mit ihrem Rollator und litt unter ihrer MS. Einzelne fragte sie zurückhaltend und leicht beschämt nach Geld. Bei Domenico und Giusy bekam sie einen Espresso, fand sie Menschen zum Reden. Im Café gegenüber ist es, als sei man unter Freunden. Weshalb es auch genauso heisst: Amici Miei.

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