Grosser schwarzer Vogel
Was sagt unser Bild von Raben und Krähen über uns Menschen aus?
Er ist der Outlaw unter den Vögeln, der Randständige, Aussätzige, Hinterlistige, Treulose, der Galgenvogel und Todesbote, einer für die ganz düsteren Tage, für die pechschwarzen Nächte. Er kräht und krächzt und kreist um alles, was verfällt, und wenn es dann zu Ende geht, lockt man ihn herbei, wie dannzumal, im Jahr 1979, der österreichische Liedermacher Ludwig Hirsch mit unerhört viel Pathos: «Komm, grosser schwarzer Vogel, jetzt wär’s grad günstig, hol mich weg von da / Und dann fliegen wir aufi, mitten in Himmel eini, in a neuche Zeit, in a neuche Welt / Und i werd’ singen, i werd’ lachen, i werd’ glücklich sein!»
Nun ja. Die Rede ist von einem Raben oder einer Krähe, man weiss es nicht genau. Beide gehören – wie auch Elstern oder Eichelhäher – zu den Rabenvögeln, lateinisch Corvidae. Manchmal nennt man die Rabenvögel auch Krähenvögel, was die Entscheidung «Rabe oder Krähe?» nicht einfacher macht. Fragt man den Zoologen Josef H. Reichholf, der sein halbes Leben mit diesen Vögeln verbracht hat, bekommt man diese Faustregel: Unter den Schwarzen der Rabenvögel, wovon es ungefähr vierzig Arten gibt, sind die Grossen die Raben, die Kleineren dagegen die Krähen.
Eindeutig ein Rabe wäre demzufolge der Kolkrabe (Corvus corax) mit einer Körperlänge von fast 70 cm, einer Flügelspannweite von bis zu 1,5 Meter und dem grössten Vogelhirn überhaupt. Dagegen wäre eine Dohle (Corvus monedula) mit knapp 35 cm Körpergrösse und einer Flügelspannweite von 70 cm eine Krähe, ebenso die bei uns weitverbreitete Saatkrähe (Corvus frugilegus) mit dem hellen Schnabel sowie jener andere Vogel, der – pechschwarz mit glänzenden Federkleid – unsere Städte, Pärke und Alleen bevölkert und im Deutschen zum Leidwesen der bisherigen Ausführungen prompt Rabenkrähe (Corvus corone) heisst.
Halten wir uns einen dieser Rabenvögel vor Augen, wenn nun es um die Fragen geht: Wieso eigentlich werden sie von uns seit jeher dermassen stigmatisiert? Was hat es damit auf sich? Was sagen diese Vorurteile über die schwarzen Vögel aus, und vor allem: was über uns?
Verehrt und verflucht
Nicht immer wurden und nicht überall werden Rabenvögel verdammt und verfolgt. In alten Zeiten galten sie als Orakel, Totem, Beschützer, Ratgeber und Heilsbringer, ausgestattet mit Macht, Intelligenz sowie einer guten Portion List. Odin, Göttervater der nordischen Mythologie, trug stets zwei Kolkraben auf seinen Schultern: Hugin sah die Zukunft voraus und Munin erinnerte sich an alles Vergangene. Pallas Athene, die Weisheitsgöttin des alten Griechenlands, umgab sich mit Raben wegen deren Klugheit, und auch dem griechischen Gott Apollon waren sie hoch und heilig. Augustus, der erste römische Kaiser, beeindruckte die Lernfähigkeit der Vögel. Er soll einem Raben beigebracht haben, ihn jeden Morgen mit «Ave Caesar victor imperator» (Sei gegrüsst, O Caesar, siegreicher Gebieter) zu beglücken; lästige Bittsteller dagegen quittierte er mit einem «Opera et impensa periit» (ungefähr: Vergiss es, da ist Hopfen und Malz verloren).

Bis heute spielen Raben und Krähen in den Erzählungen von Indigenen eine grosse, überwiegend positive Rolle. Für die Inuit etwa steht am Anfang nicht das Wort, sondern eine dunkle Nacht, aus der ein schwarzer Rabe kam und so die Welt erschuf. Das Bild vom Schöpfer hat sich ab den 1960er-Jahren die Hippie- und New-Age-Bewegung zu eigen gemacht und dabei Raben und Krähen auf befremdliche und bisweilen lächerliche Weise zu magischen, prophetischen Gestalten überhöht.
Zu bösen Tieren wurden die Rabenvögel in der christlich-jüdischen Tradition. Es war Noah, der von seiner Arche einen Raben entsandte, damit dieser trockenes Land finde. Doch der machte sich auf und davon und kam nicht wieder. Hernach verfluchte der Bärtige den Vogel und schickte eine schneeweisse Taube los, die bald darauf zurückkehrte und vom Ende der Sintflut kündete – bekanntlich mit einem Palmzweig im Schnabel.
Spätestens seit dem Mittelalter verschlechterte sich das Image der Rabenvögel arg. Sie wurden zu verlausten Begleitern von Unholden und Hexen, zu Vorboten von Tod, Unheil und Pest. Man nannte sie Schädlinge und Ungeziefer, die sich über Leichen und Kadaver hermachen und ihnen die Augen aushacken (Alfred Hitchcock hat dieses Klischee in «Die Vögel» von 1963 exzessiv bedient), die im Müll wühlen und so Krankheiten und Seuchen verbreiten. Alsbald gingen Worte wie «Galgenvogel», «Unglücksrabe», «Rabenmutter» oder «rabenschwarzer Tag» in unsere Alltagssprache ein – wo sie bis heute stehende Ausdrücke bilden.
Umsorgen, täuschen, rülpsen
Dabei trifft nichts von alledem zu, was man den schwarzen Vögeln an Schlechtem nachsagt. Was nicht weiter erstaunen mag. Bemerkenswert aber ist, wie spät sich die Forschung mit den Rabenvögeln und deren Rehabilitation befasst hat. Zwar widmete sich bereits in den 1930er-Jahren Konrad Lorenz, Nobelpreisträger und Nazi, den Corviden. Er fand heraus, dass sich die Vögel (selbst wenn sie homosexuell sind) paarweise und gleichberechtigt um die Jungen kümmern, die ihrerseits bis zu fünf Jahre bei der umsorgenden Familie bleiben – von wegen «Rabeneltern». Doch erst in den letzten dreissig Jahren hat sich die Verhaltensforschung unter dem Einfluss des deutschamerikanischen Zoologen Bernd Heinrich – seine Bücher über die Kolkraben sind Kult – dem sozialen und kognitiven Leben der Rabenvögel gewidmet und dabei Erstaunliches entdeckt.
So verfügen die Tiere über eine hohe praktische Intelligenz. 2002 veröffentlichte der britische Biologe Alex Kacelnik eine Studie über zwei Neukaledonische Krähen (Corvus moneduloides). Betty und Abel konnten im Labor mit Drahtstücken, die sie zu einem Haken bogen, Fleisch aus einem Glaszylinder angeln. Ähnliche Werkzeuge bauen sich die Vögel auch in ihrer natürlichen Umgebung, wenn sie nach Larven stochern; zudem geben sie diese Fertigkeit an die nächste Generation weiter. Auch die Gedächtnisleistung der Rabenvögel ist famos. Kiefernhäher (Nucifraga columbiana), die zur Gattung der Nussknacker gehören, verstecken im Herbst gegen 30 000 Samen an bis zu 6000 Orten, die sie im Winter nicht bloss wiederfinden; sie wissen ausserdem, von welcher Sorte die jeweiligen Samen sind, um sie rechtzeitig vor dem Auskeimen aus den unterschiedlichen Verstecken zu klauben.
Einen eigenen Forschungszweig bildet die Krähensprache. Bis zu 250 verschiedene Rufe wurden bisher identifiziert, zudem konnten regionale Dialekte ausgemacht werden. Unter den Kolkraben gibt es innerhalb der Familienmitglieder sogar eine Art Geheimsprache, sie wird leise und sozusagen im Plauderton «gesprochen». Unbestritten ist auch die Kunst der Nachahmung. Rabenvögel können nicht bloss krächzen, sondern auch grunzen, rülpsen und sirren. Sie imitieren die Laute von Auerhähnen, Wildschweinen, Tauben und Hunden ebenso wie die Geräusche von Sirenen, Autohupen oder Handys – und natürlich die Stimmen von uns Menschen.
Bemerkenswert ist auch das Einfühlungsvermögen der Rabenvögel. Es äussert sich etwa darin, dass sie Freunde warnen und Feinde täuschen können. Auch sind sie in der Lage, Absichten von anderen vorwegzunehmen, sich also sozusagen in die Krallen der anderen zu versetzen. Der erwähnte Evolutionsbiologe Reichholf berichtet von Krähen, die Verhaltensweisen von verletzten oder sterbenden Artgenossen imitieren, um so Empathie zu zeigen. All das setzt voraus, dass Rabenvögel über so etwas wie ein Ich-Bewusstsein verfügen. Tatsächlich konnte eine Forschungsgruppe um den Psychologen Helmut Prior 2008 am Beispiel von Elstern (Pica pica) zeigen, dass sich Rabenvögel im Spiegel erkennen – in der Verhaltensforschung der ultimative Test dafür, dass Tiere über ein zumindest rudimentäres Selbstbewusstsein verfügen.
Ausgeprägtes Sozialleben, Werkzeuggebrauch, Intelligenz, Empathie und Selbstbewusstsein – alles Eigenschaften, die in dieser Kombination neben dem Homo sapiens, wenn überhaupt, nur ganz wenige Tierarten aufweisen. Sind uns diese wunderlichen schwarzen Vögel am Ende etwa ähnlicher, als uns lieb ist? Und könnte genau das – diese Nähe zu uns – der Grund sein, weswegen wir sie verteufeln und verfolgen?

Das jedenfalls sagt Bernd Heinrich, Übervater der Rabenforschung. Für ihn vollzieht sich die Kulturgeschichte des Menschen seit jeher unter der Beobachtung der Rabenvögel. Als einzige Vogelfamilie haben sie sich über die Jahrtausende ausser im südlichen Südamerika und in der Antarktis überall auf der Welt angesiedelt und dabei immer die Menschen begleitet. Die nicht bloss räumliche Nähe, sondern auch die Parallelen im sozialen und kognitiven Leben seien dem Menschen durchaus bewusst gewesen und hätten sich entsprechend in den Mythen niedergeschlagen, so Heinrich. Dabei liessen sich die Rabenvögel, anders als der Wolf, die Urkatze und all die heutigen Nutztiere, nicht domestizieren, was mit ein Grund dafür sei, dass sie uns trotz – oder gerade wegen – aller Nähe immer noch unheimlich und bedrohlich erscheinen.
Fast wie wir? Dann doch nicht
Dass wir uns von denjenigen abgrenzen wollen, die uns eigentlich gleichen, mag kontraintuitiv erscheinen. Für den Verhaltensforscher Heinrich steckt darin aber etwas sehr Menschliches. Im Vorwort zu seinem Buch «Die Weisheit der Raben» von 1999 schreibt er, dass sich der Mensch zumindest in unserer Tradition für etwas Spezielles hält und sich daher insbesondere von jenen abheben muss – ob andere Menschen oder andere Tiere –, die ihm ähneln und ihm gerade deswegen den Rang des Einzigartigen streitig machen.
Dieser Ansatz wird auch in der modernen Sozialwissenschaft geteilt. Birgit Mütherich, die sich eingehend mit der Figur des Fremden befasst hat, ist überzeugt, dass die Konstruktion des Anderen oder Fremden auf nebensächlichen Differenzen sowie Fiktionen aufbaut. Das klingt kompliziert, die Idee dahinter ist aber einfach: Dass jemand bei allen Gemeinsamkeiten, die wir mit ihr oder ihm teilen, nur schon ein wenig anders aussieht, sich ein bisschen anders verhält, anders denkt, spricht, fühlt, glaubt oder liebt, wird zu einem grossen, ja unüberwindbaren Unterschied erklärt. Zudem wird diese Andersartigkeit mit negativen Merkmalen besetzt, die grösstenteils erdichtet sind oder zumindest mit der Realität nicht viel zu tun haben, sondern auf Vorurteilen gründen. Dieser Mechanismus der Ab- und Ausgrenzung, so Mütherich, sei in den Grundzügen immer derselbe, ob es nun um Differenzen innerhalb von Personengruppen geht wie Schwarz-weiss, männlich-weiblich, heterosexuell-homosexuell, arm-reich etc. oder um Mensch-Tier-Verhältnisse.
Diese Überlegungen mögen erklären, weswegen es so schwierig ist, Stereotype und Vorurteile aufzugeben – selbst wenn die Fakten längst auf dem Tisch liegen und das schiere Gegenteil dessen belegen, was sich an vorgefestigten Bildern in unsere Köpfe eingenistet hat. Vorurteile begraben, Andersartigkeiten anerkennen, hiesse dann nämlich eingestehen, dass wir so einzigartig doch nicht sind und die Geste der Ausgrenzung ein Zeichen von Dominanz ist, von der wir uns verabschieden sollten.
Im Falle unserer Zerrbilder von Raben und Krähen spiegelt sich darin am Ende bloss, was unserer Tradition offenbar wie eingeschrieben ist: dass wir Menschen oben sind, die Tiere aber unten. Diese Hierarchien aufgeben wird noch lange dauern. Was wir den Rabenvögeln schulden, die uns trotz Federn, Schnabel und Krallen so ähnlich sind, ist eine Frage, die dennoch gestellt werden muss. Nicht in der Schweiz, wohl aber in den EU-Ländern sind Raben und Krähen inzwischen geschützt, sie dürfen also nicht mehr, wie lange üblich, erschossen, vergiftet, erdrosselt oder lebendig an Türen genagelt werden.
Der Grund für diesen Entscheid war allerdings nicht, dass Vorurteile gegenüber den schwarzen Vögeln abgelegt worden wären. Eher war das Ganze ein Versehen: Mit der Vogelschutzrichtlinie 79/409/EWG von 1979 stellte die EU nämlich alle Singvögel (Passeri) unter Schutz. Erst später und unter lautem Protest von Jagdverbänden wurde den stimmberechtigten Politiker*innen im Europaparlament bewusst, dass auch die krächzenden und krähenden Rabenvögel zu den Singvögeln gehören.