Drei Frauen erzählen vom Krieg
Sudan: Im drittgrössten Land Afrikas hungern 25 Millionen Menschen. 12 Millionen sind auf der Flucht, die meisten versuchen in Nachbarländer wie Ägypten zu gelangen. Drei, die es geschafft haben, erzählen vom Schrecken – und von menschlicher Stärke.
Sie alle waren im Sudan, als dort Mitte April 2023 ein Krieg ausbrach: Nidal Ali, Salma Awad und Nagda Mansour. Inzwischen sind die drei Frauen geflüchtet und leben im Nachbarland Ägypten. Erst wenige Jahre zuvor, während der Revolution 2018 und 2019, waren die Menschen im Sudan gegen den Langzeitdiktator Omar Al Baschir auf die Strasse gegangen. Im Zentrum des aktuellen Krieges stehen die Rapid Support Forces (RSF) unter Mohamed Hamdan Dagalo («Himedti») auf der einen und die Armee von General Abdel Fattah Burhan auf der anderen Seite, auch wenn die Gemengelage wesentlich komplexer ist.
Den Kriegsparteien werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, darunter sexualisierte Gewalt und der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe. Laut der UNO ist der Krieg im Sudan, wo fünfzig Millionen Menschen leben, derzeit die weltweit grösste humanitäre Krise. 25 Millionen Menschen hungern, über 150 000 wurden getötet und 12 Millionen sind auf der Flucht.
Nidal Ali (45), Mutter von acht Kindern

«Ich bin mit sieben meiner acht Kinder aus der Hauptstadt Khartum in den Norden Sudans und weiter nach Ägypten geflohen. Wir wollten nicht fort. Ich habe nächtelang darüber nachgedacht, was, wenn wir auf dem Weg sterben? Aber als wir hörten, dass die RSF Mädchen und Frauen vergewaltigten, entschieden wir uns, die Stadt zu verlassen – vor allem für unsere vier Töchter. Mein Mann blieb, um unser Haus zu verteidigen. Wenige Tage später kamen die RSF, schlugen meinen Mann bewusstlos und hängten ihn mit zusammengebundenen Händen am Ventilator auf. Doch das Seil riss und Nachbarn fanden ihn. Er kam schwer verletzt wieder zu Bewusstsein. Inzwischen lebt er mit uns in Kairo, physisch und psychisch geht es ihm nicht gut.
Um nach Ägypten zu gelangen, mussten wir die Wüste mit Schmugglern durchqueren. Neun Tage waren wir unterwegs. Zusammengepfercht auf der Tragefläche eines Jeeps wiesen sie uns an: ‹Wer runterfällt, bleibt zurück!› Wir waren eine Gruppe von etwa fünfzehn Frauen, sechzehn Kindern und neun Männern. An einem Abend luden sie uns ab und fuhren mit den Jeeps weg. Zwei Tage kamen sie nicht wieder. Es gab Schlangen, Skorpione und Hyänen. Nachts hatten wir Angst, dass die Tiere uns angreifen würden.
Da kam mir die Idee, Feuer zu machen – ich hatte das im ‹Dschungelbuch› gesehen. Wir füllten Gras in Plastikflaschen, damit das Feuer so lange wie möglich brennen würde und bauten damit einen Kreis um uns. Die Kinder nahmen wir in die Mitte. In der Nacht hörten wir die Hyänen heulen, am Morgen konnten wir ihre Spuren im Sand sehen. Meine Idee beeindruckte die Männer. Von da an fragten sie mich immer nach meiner Meinung. Sie sagten: ‹Wir haben unseren Kopf im Krieg gelassen, wir brauchen deinen Rat.› In diesen Momenten fühlte ich mich stark.
Ich schaffte es, dass alle zusammenblieben, schlichtete Streit und teilte das wenige Essen, das wir hatten. Gott sei Dank fand ich in der Wüste einen schmutzigen Topf, den ich mit Feuer und Sand reinigte. Die Schmuggler hatten uns nur mit Benzin verunreinigtes Wasser, ein wenig Kaffee und Hirsemehl dagelassen.
Viele von uns wurden krank. Die Hitze machte alles nur noch schlimmer. Um tagsüber etwas Schatten zu haben, bauten wir mit Tüchern eine Art Zelt. Meinen Kindern, sie waren zwischen 6 und 23 Jahre alt, erzählte ich, dass wir uns auf einer Abenteuerreise nach Kairo befänden. Ich sagte: ‹Lasst uns sehen, wie lange wir mit so wenig Essen, ohne Zucker und ohne Salz, durchhalten können.› Ich schwärmte von all den Dingen, die es in Kairo geben würde, obwohl ich nicht sicher war, ob wir die Reise überleben würden. Wenn ich heute einen Kaffee trinke, den ich über dem Feuer gekocht habe, riecht er für mich noch immer nach der Flucht.»
Salma Awad (33), Fussballerin und Velokurierin

«Ich liebe es, Velo zu fahren. Schon als Kind bin ich mit den Jungs im Park immer zu den Velos gelaufen statt zu den Schaukeln, die für die Mädchen vorgesehen waren. Im Sudan ist es gesellschaftlich tabu, dass Frauen Velo fahren. Ich habe es trotzdem gemacht. Unterstützt wurde ich dabei von einer Organisation, bei der ich mir ein Velo leihen konnte. Als ich schliesslich selbst eines besass, versteckte ich es vor meiner Familie – sie hätten es mir weggenommen. Ich fing an, in Khartum mit dem Velo Kosmetik oder Kleidung auszuliefern. Soviel ich weiss, war ich die allererste Frau im Sudan, die einen Velo-Lieferservice hatte. Manche nahmen meine Lieferungen nicht an, weil ich eine Frau bin. Unterwegs bewarfen mich immer wieder Männer mit Steinen.
Als der Krieg ausbrach, bekam ich Anfragen, Medikamente zu liefern. Es gab nur noch vereinzelt Apotheken, so musste ich auch durch umkämpftes Gebiet fahren. Einmal stoppten mich die RSF, schlugen mir mit einer Peitsche auf den Rücken, nahmen mir Geld und mein Mobiltelefon weg. Als sie einen Moment unachtsam waren, entkam ich mit dem Velo – nur um ein paar Strassen weiter auf das Militär zu treffen. Prompt warf es mir vor, eine Spionin zu sein und mit den RSF zusammenzuarbeiten. Glücklicherweise konnte ich sie vom Gegenteil überzeugen, und sie liessen mich gehen.
Als die Kämpfe weiter eskalierten, musste ich Khartum und mein Velo zurücklassen. Ich floh erst in den Norden Sudans, wo ich in einem UN-Camp Kinder im Fussball trainierte, um etwas Geld zu verdienen. Weil es kein Trainingsmaterial gab, füllte ich Plastikflaschen mit Sand, die ich als Markierungen nutzen konnte. Mithilfe eines Einladungsschreibens meines Fussballtrainers bekam ich schliesslich ein Visum für Ägypten und reiste im Juni 2024 nach Kairo. Hier wohne ich jetzt zusammen mit meiner Tante, die ich im Haushalt unterstütze. Regelmässig trainiere ich hier im Exil mit dem sudanesischen Frauen-Fussballteam, wir nennen uns ‹Samidat›, was so viel wie standhaft bedeutet. Inzwischen konnte ich mir sogar ein Mountainbike kaufen und fahre auch hier wieder Lieferungen aus. Anscheinend gibt es in Kairo ein paar Velokurierinnen, aber ich habe noch nie eine getroffen.
Ich wünsche mir, in das UNHCR-Resettlement-Verfahren zu kommen, um nach Europa oder Kanada zu reisen. Ich will eine Ausbildung machen, Englisch lernen und Geld sparen. Und dann irgendwann in den Sudan zurückkehren, ein Sportzentrum für Frauen eröffnen und einen Velo-Lieferservice aufmachen, in dem nur Frauen arbeiten. Ich möchte etwas von der Unterstützung, die ich erfahren habe, zurückgeben und alle Frauen ermutigen, ihren Träumen zu folgen.»
Nagda Mansour (45), Menschenrechtsaktivistin und Dolmetscherin

«Ich komme aus einer traditionellen Familie, gleichzeitig unterstützte mein Vater es sehr, dass wir Kinder eine gute Bildung bekommen. Wir sind vier Schwestern und vier Brüder. Es war ein Balanceakt, teilweise mit der Tradition zu brechen und gleichzeitig Teil der Familie zu bleiben. Es bedeutet, sich die Kämpfe gut auszusuchen und Kompromisse einzugehen. Zum Beispiel bestand ich darauf, dass ich selbst wählen konnte, wen ich heirate. Aber ich akzeptierte den Wunsch meines Vaters, traditionelle Kleidung zu tragen, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.
Am Tag, als der Krieg ausbrach, war ich in Khartum. Ich wohnte in der Nähe des Präsidentenpalasts und des Marktes Al-Suq al-arabi. Als ich draussen ein Mädchen schreien hörte: ‹Es gibt einen Putsch!›, lief ich hinaus, getrieben von meinem journalistischen Instinkt. Ich ging live auf Facebook. Dann stoppte ein Mann in Uniform auf einem Motorrad neben mir und sagte, sie würden dieses Gebiet auch angreifen, wenn ich nicht aufhörte zu filmen. Ich nahm die erste Mitfahrgelegenheit, die sich bot, und kam in das Viertel, in dem meine Schwester lebte. Sie war verreist, ich blieb alleine in ihrem Haus. Wenn Menschen aus dem Marktviertel hierherkamen, erzählten sie von Toten auf den Strassen. Eine Rückkehr war wegen der schweren Kämpfe unmöglich geworden. Tagelang hatte ich keinen Strom und kein Wasser, während die Bomben um mich herum einschlugen.
Irgendwann beschlossen ich und meine Nachbarin Nuha, uns trotzdem hinaus zu wagen. Ich musste an meinen Laptop in meiner Wohnung kommen, ich brauchte ihn dringend zum Arbeiten. Wir liefen unter Beschuss durch die Strassen. Der Markt war verlassen, viele Läden waren aufgebrochen und geplündert. Das Obst lag noch auf den Ständen, braun von der Sonne. Ich habe noch die Schreie von Raubvögeln in den Ohren, die wegen der Leichen am Himmel kreisten – der Klang des Todes. Am Ende schafften wir es zu meiner Wohnung und holten meine Sachen. Wir hatten Glück.
Neulich hatte ich mit meinem Mann einen besonderen Moment im Bett, als er plötzlich innehielt. Ich fragte ihn, woran er denke, und erwartete, etwas Romantisches zu hören. Stattdessen sagte er, er denke über den letzten Stand der Verhandlungen in Khartum nach. Ich verstand ihn so gut: Dieser Krieg ist immer präsent, er ist Teil von uns – selbst im Bett. Mein Mann und ich haben mitten im Krieg geheiratet. Seine Fürsorge beeindruckte mich. Er ist mein Weggefährte und bei ihm fühle ich mich sicher. Doch wir gehen beide Kompromisse ein, denn im Gegensatz zu mir ist er kein Feminist. Und auch wenn er mich respektvoll behandelt: Heiraten bedeutet, den Feminismus zu verraten.
Hier in Kairo, wo ich seit Januar 2024 lebe, ist das Schwierigste für mich, nicht mehr so am Leben draussen teilnehmen zu können, wie ich gerne würde. Regelmässig poste ich Videos auf Facebook, in denen ich auf Menschenrechtsverletzungen im Sudan aufmerksam mache. Die Drohungen, die mein Mann und ich dafür erhalten, machen mir Sorgen – aber diese letzte Freiheit, meine Meinung zu äussern, lasse ich mir nicht nehmen.
Ich denke, dass es am Ende die Menschenrechtsverletzungen sein werden, an denen beide Konfliktparteien im Sudan scheitern. Wegen ihnen verlieren sie die Legitimation zu regieren. Im Gegensatz zu uns, denn unsere Revolution ist nicht vorbei. Vielleicht braucht es noch mehr Zeit, aber irgendwann wird der Sudan demokratisch sein, davon bin ich überzeugt.»
Salma Awad und Nagda Mansour
«Wir waren Nachbarinnen, haben uns aber erst während des Krieges wirklich kennengelernt. Da die meisten Männer unser Viertel verlassen hatten, fühlten wir uns plötzlich freier, draussen unter einem Baum zu sitzen und Tee zu trinken – normalerweise würden Frauen das nicht tun. Der Bruch dieser kleinen gesellschaftlichen Regeln ist Teil unseres Widerstandes gegen diesen Krieg. Am Ende des Ramadans im April war uns allen nicht zum Feiern zumute. Aber dann hat Mariam, eine unserer Nachbarinnen, allen in der Nachbarschaft Süssigkeiten geschenkt. Wenn alles dunkel ist, sucht jede nach einem Funken Licht. Was Mariam gemacht hat, brachte uns dieses Licht. Als sie mit ihrem Mann nach Kairo floh, übernahm ihre Schwester ihre Rolle und brachte uns Essen.»
—
Nagda Mansour hat nicht nur ihre Geschichte zu Protokoll gegeben, sondern auch als Übersetzerin bei den Gesprächen mit den beiden anderen mitgearbeitet.
Hintergrund: Im Würgegriff der Machthungrigen (von Roman Deckert)

Der Krieg im Sudan ist ein hausgemachter Konflikt zwischen mafiösen Militärs. Und ein Stellvertreterkrieg, an dem auch Europa seinen Anteil hat.
«Als Gott den Sudan schuf, musste er lachen», besagt ein sudanesisches Sprichwort und meint sowohl ein freudiges wie ein entgeistertes Lachen. Der Spruch bringt einen grundlegenden Widerspruch auf den Punkt, der wohl viele Sudan-Reisende verblüfft: Wie passt es zusammen, dass ein Land berühmt ist für die Freundlichkeit vieler Menschen und doch ständig von brutalen Konflikten zerrissen wird? Wie kann es sein, dass Khartum bis vor kurzem als sicherste Hauptstadt Afrikas galt, während in vielen ländlichen Grenzgebieten bewaffnete Auseinandersetzungen tobten?
Die Wurzeln dieser Konflikte sind verworren, aber man kann doch einige Ursachen identifizieren, die teils weit in die Vergangenheit reichen. Besonders eindringlich tut dies der sudanesische Spielfilm «Goodbye Julia», der im Jahr 2023 nur einen Monat nach Kriegsausbruch seine Premiere in Cannes feierte. Das Drama erzählt die Geschichte zweier Frauen kurz vor der Teilung des Landes im Jahr 2011, als sich der Südsudan nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges vom Norden abspaltete. Rassismus, religiöser Fanatismus und toxische Maskulinität hatten das Zusammenleben vergiftet.
Bei allen Ursachen, die sich auch im Sudan selbst finden, waren es immer wieder ausländische Interessen, die die Misere befeuerten. So suchten die ägyptischen Herrscher ihre südlichen Nachbarn über Jahrtausende mit der Jagd nach Sklaven und Gold heim, von pharaonischen Zeiten bis ins 19. Jahrhundert, wie der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt bei seinen Reisen durch die Region bezeugte. Die Traumata der Sklaverei hatten sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben und wirken bis heute fort. Moderne Formen des Menschenhandels existieren weiterhin, vor allem im Söldnerwesen.
Überdies wiegt auch im Sudan das koloniale Erbe schwer. Als es 1924 zu einer friedlichen Volkserhebung kam, schlugen die britischen Kolonialherren diese brutal nieder. In der Folge herrschten sie nach einem ebenso bewährten wie verhängnisvollen Prinzip: «Teile und herrsche». Nach der sudanesischen Unabhängigkeit 1956 übernahmen Diktatoren wie Omar Al Baschir diese Technik der Machterhaltung und spielten verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander aus.
Von einem Staat mit einer Armee mutierte der Sudan rasch zu einer Armee mit einem Staat. Bis heute gab es – je nach Zählweise – zwischen 18 und 35 Staatsstreiche bzw. Putschversuche. Ein afrikanischer Rekord. Damit einher ging eine «Militarisierung des politischen Marktplatzes», wie es der britische Friedensforscher Alex de Waal nennt: Sudanesische Politiker können mittlerweile fast nur noch dann Zugang zu Macht und Ressourcen bekommen, wenn sie eigene Kämpfer hinter sich scharen.
Die reguläre Armee hat sich derweil auf den Aufbau eines eigenen Wirtschaftsimperiums konzentriert. Die Niederschlagung von Rebellionen in den vernachlässigten Randgebieten des Landes lagerte sie an ethnische Milizen aus. So bekämpften die berüchtigten Dschandschawid-Reitergruppen ab 2003 einen Aufstand in Darfur, der Region im Westen des Landes, die lange Zeit ein eigenständiges Sultanat gewesen war. Die Region leidet seit den 1970er-Jahren unter heftigen Dürren, die auch durch den Klimawandel ausgelöst werden. Kleinbäuer*innen und Viehhirt*innen hätten mit Agrarexporten in die Golfstaaten harte Devisen für den hochverschuldeten Staat erwirtschaften sollen. Aber unter diesem Druck eskalierten die Spannungen zwischen ihnen.
Doch diese Strategie des Outsourcings sollte sich fatal rächen, denn aus den Dschandschawid gingen schliesslich die Rapid Support Forces (RSF) hervor. Deren Anführer Mohamed Hamdan Dagalo, besser bekannt als «Himedti», stieg mit einer mafiösen Kombination aus militärischen und zivilen Geschäften zu einem der reichsten Männer des Sudans auf. Zum einen stellte er Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die im Jemen-Krieg gegen die Huthi-Milizen kämpften, seine Söldnertruppen zur Verfügung. Und zum anderen brachte er die lukrativen Goldminen in Darfur unter seine Kontrolle. In einer zunehmend destruktiven Volkswirtschaft gab es für viele Sudanes*innen kaum mehr andere Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Vor diesem Hintergrund stiegen die RSF in den 2010er-Jahren zu einem Staat im Staate auf. Internationale Anerkennung erlangten sie durch den «Khartoum Process» im Jahr 2014, mit dem die Europäische Union die regionalen Fluchtund Migrationsbewegungen eindämmen wollte. Auch die Schweiz schloss sich dieser Initiative an, dank der die RSF quasi zu den offiziellen Türstehern Europas avancierten. Letztlich erreichte diese Politik das Gegenteil des Erstrebten: Himedtis Putschversuch vom April 2023 gegen die Armee führte zur grössten Fluchtkatastrophe unserer Zeit.
Bei allen innenpolitischen Ursachen handelt es sich auch um einen regionalen Stellvertreterkrieg mit globalen Verflechtungen. Es ist unstrittig, dass die Vereinigten Arabischen Emirate der Hauptsponsor von Himedti und seinen RSF sind. Auf der anderen Seite stehen Saudi-Arabien und Ägypten, die die Armee von General Abdel Fattah Burhan zusammen mit Katar, Iran und der Türkei unterstützen. Dabei geht es um geopolitische Interessen wie die Kontrolle über das Nilwasser, über Häfen am Roten Meer und über die landwirtschaftlichen Produktionsflächen. Wichtigster Treibstoff des Krieges ist wie schon in der Antike das sudanesische Gold, das von beiden Lagern in die Glitzermetropole Dubai verkauft wird. Die von der westlichen Politik hofierten Emiratis lassen das Edelmetall übrigens vorzugsweise in der Schweiz raffinieren und zertifizieren.
Heute ist der Sudan faktisch ein gespaltenes Land. Die Armee hat erst nach fast zwei Jahren und nur mit Hilfe verbündeter Milizen die Hauptstadt Khartum von den RSF zurückerobert. Sie ist ein Trümmerfeld, die Ruine des Präsidentenpalastes steht symbolhaft für den katastrophalen Staatszerfall. In einem militärischen Patt herrschen Himedtis RSF über die westliche Hälfte des Sudan, die Junta von General Burhan über die östliche. Millionen Menschen sind umso mehr vom Hungertod bedroht, da die reichen Staaten der Welt ihre Gelder für humanitäre Hilfsmassnahmen zusammenstreichen.
Doch es gibt auch Hoffnung. Vor allem durch die vielen lokalen Emergency Response Rooms. Mit Unterstützung der sudanesischen Diaspora organisieren sie solidarische Nachbarschaftshilfen und repräsentieren damit die beste Seite der sudanesischen Zivilgesellschaft, in der Frauen wie schon in der Revolution 2019 gegen Omar Al Baschir eine wichtige Rolle spielen. Schon dreimal – 1964, 1985 und 2018/19 – hat sich die Bevölkerung mit friedlichen Mitteln von Militärdiktaturen befreit. Die Geschichte zeigt also eindrucksvoll, dass die Sudanes*innen den Sudan selber retten können. Sie brauchen dabei allerdings die Solidarität der restlichen Menschheit statt stillschweigender Komplizenschaft mit den Kriegstreibern.
—
ROMAN DECKERT ist Historiker und arbeitet seit 1997 zum Sudan, vor allem in Projekten zur Unterstützung sudanesischer Journalist*innen.