Flucht: «Und du, wo bist du?»

Monatelang steckte der Pakistani Zarar Ch. während seiner Flucht auf dem Balkan fest, dann erreichte er Italien. Seit sechs Jahren lebt er nun schon dort – doch angekommen ist er nicht.

31.03.2023Text: Klaus Petrus

Subotica, im November 2016, eine verfallene Fabrik nahe der serbisch-ungarischen Grenze, ohne Strom und fliessend Wasser. Zarar Ch., damals 23, war gemeinsam mit seinem Bruder und einer Handvoll Freunden im Frühjahr aus Pakistan unweit der Hauptstadt Islamabad geflohen – vor den Taliban, wie er mir sagte. Ich traf ihn in den folgenden Monaten immer wieder irgendwo in Serbien, in Belgrad, Sombor oder Šid, mal für eine Stunde oder zwei, ein andermal verbrachten wir Tage zusammen. Ich schrieb einen Artikel über Zarar Ch., als der Balkan für ihn, wie für viele andere, zur Sackgasse wurde. Dann, im August 2017 und nach eineinhalb Jahren auf dem Balkan, gelang ihm die Flucht über Ungarn und Österreich nach Italien. Dort lebt Zarar bis heute, zuweilen froh im Herz, dann aber auch verzweifelt, mit dunklen Gedanken. Ich habe ihn dort auch besucht, wollte wissen, wie das für ihn ist: ankommen – oder eben nicht. In all dieser Zeit, von Mai 2017 bis heute, blieben wir in Kontakt, schrieben uns Nachrichten; inzwischen ist dieser Chat, auf A4-Blättern ausgedruckt, auf 187 Seiten angewachsen. Er handelt von Schleppern und von Scham, von Essen und Arbeiten, von fröhlichen Weihnachten und trüben Sommertagen – und von Versprechen, die es einzulösen gilt, bevor es zu spät ist.

 

03.05.2017, 07:26

Klaus P: Hey Zarar. Wir haben uns letztes Jahr in Subotica getroffen, an der Grenze zu Ungarn, haben lange geredet. Ich werde diese Tage zurückkehren, wollen wir uns sehen?

Zarar Ch: Natürlich erinnere ich mich. Weiss allerdings nicht, ob ich dann noch in Belgrad sein werde. Das Wetter ist endlich gut. Muss jede Gelegenheit nutzen, um über die Grenze zu gelangen.

 

15.05.2017

Klaus P: Bin in Belgrad angekommen, nehme den Bus nach Subotica und von da nach Horgoš in den «Dschungel», habe Kontakte zu Geflüchteten dort, die mit Lastwagen über die Grenze wollen. Du?

Zarar Ch: Pass auf die ungarische Polizei auf, es sind Bastarde. Bin in Sombor, in einem Lager. Würde mich freuen, dich endlich wieder zu sehen. Kommst du voran?

Klaus P: Habe Zweifel an meiner Arbeit. Alle machen dieselben Bilder von euch Geflüchteten, ich auch, das ist Quatsch. Naja, werde auf dem Rückweg ein paar Bilder vom Belgrader Busbahnhof machen, jetzt sind all die Journis ja weg. Dann nehme ich den Bus nach Sombor und wir sehen uns, inschallah.

Zarar Ch: Ok, mein Freund.

Klaus P: Kann noch nicht weg. Habe Afghanen getroffen, sie wurden von der ungarischen Grenzpolizei offenbar misshandelt, schwere Verletzungen, Brüche, Verbrennungen, etc.

 

17.05.2017, 11:10

Zarar Ch: Ich bin in 20 Minuten in Belgrad, dort holen mich Schlepper ab, wir gehen noch diese Nacht los. Wo bist du? Immer noch in Subotica, an der Grenze? Ich rufe dich aus Italien an, inschallah Oder wir sehen uns übermorgen in Belgrad … Bete für mich.

 

18.05.2017, 09:32

Zarar Ch: Gestern zu viel Regen, konnten nicht los. Heute Nacht oder niemals.

 

20.05.2017, 17:43

Klaus P: Alles gut? Bin an der kroatischen Grenze. Du?

 

22.05.2017, 14:56

Zarar Ch: Wieder in Belgrad. Sie haben uns erwischt, irgendwo in Kroatien. Versuche nach Sombor ins Lager zu kommen. Vielleicht können wir uns sehen. Bin erschöpft, brauche ein paar Tage Ruhe.

 

04.06.2017

Zarar Ch: Mein Freund, wie geht es dir? Und deiner Arbeit? Wie ist das Wetter in der Schweiz? Um ehrlich zu sein, mir geht es nicht gut. Ich war wieder einmal über der Grenze – jetzt schon zwanzig, dreissig Mal? –, die ungarische Polizei hat uns erwischt. Sie haben mit Stöcken auf uns eingeschlagen. Immer wieder. Dann liessen sie Hunde auf uns los. Irgendwann wurde mir schwindlig, sie schlugen weiter, einer verdrehte mit den Arm, ein anderer trat mir aufs Knie. Wir mussten uns nackt auf den Boden legen, und noch mehr. Ich schicke dir Bilder, schreib darüber, du kannst meinen richtigen Namen benutzen, mir ist alles recht.

Klaus P: Ist dein Bruder bei dir, hast du Hilfe? Darüber, deinen richtigen Namen zu benutzen, reden wir später, ich weiss nicht, ob das eine gute Idee ist.

 

23.07.2017, 15:38

Zarar Ch: Klaus, ich bin in Österreich

Klaus P: Was???

Zarar Ch: Ja, über Ungarn und Kroatien, war alles ganz einfach, die Schlepper haben gute Arbeit gemacht. In ein, zwei Tagen will ich weiter nach Italien, inschallah.

Klaus P: Und alles gut bei dir?

Zarar Ch: Müde. Aber alles gut.

Klaus P.: Gottseidank.

Zarar Ch: Allhamdulillah.

 

27.07.2017, 20:38

Zarar Ch: Bin in Italien angekommen. Hoffe, kriege bald Arbeit und eine eigene Wohnung. Dann werde ich dich einladen, wir werden essen und reden.

 

03.09.2017, 22:47

Zarar Ch: Mir ist langweilig hier, muss den ganzen Tag warten. Mein Gott, aber auf was denn nur? Versuche, Italienisch zu lernen. Nicht leicht, ich sage dir. Möchte lieber nach Kanada. Und du, wo bist?

Klaus P: Gerade aus Albanien zurück. Wo ist dein Bruder, ist er immer noch in Serbien?

Zarar Ch: Ja. Es ist schlimm, ihn nicht bei mir zu haben. Er ist der Einzige, mit dem ich über mich rede, meine Sorgen. Und mit dir.

Klaus P: Ich komme bald nach Italien, wallah.

 

19.11.2017, 20:35

Zarar Ch: Immer noch in Pordeone, ein Tag gleich dem anderen, ich fühle mich verloren. Ich vermisse Serbien. Gottseidank ist mein Bruder inzwischen in Italien, aber auch er sitzt herum, in Bologna, hat keine Arbeit, nichts zu tun.

 

07.02.2018, 12:19

Zarar Ch: Noch immer keine Arbeit. Habe bald kein Geld mehr, was soll ich daheim sagen? Nun bin ich endlich in Europa, doch was habe ich davon? Wo bist du?

Klaus P: Bin wieder auf dem Balkan, wieder Migration. Ich weiss nicht recht. Bin so oft hier und jedes Mal wird es schlimmer. Keine Ahnung, wem das was bringt, was ich hier mache.

Zarar Ch: Rede nicht so, wir brauchen alle unsere Hoffnung.

Klaus P: Sag, wie verbringst du deine Tage?

Zarar Ch: Frag nicht. Sitze zu Hause, manchmal gehe ich mit Freunden aus oder so. Jetzt muss ich zum Freitagsgebet. Du auch?

 

31.03.2018, 11:40

Klaus P: Ich denke an deine Eltern, du hast mir so viel von ihnen erzählt. Wie geht es ihnen? Machen sie sich Sorgen?

Zarar Ch: Alle zwei, drei Monate rufe ich sie an. Weisst du, ich schäme mich sehr. Wenn sie wüssten, wie ich all die Monate in Serbien gelebt habe, in diesem Dreck. Wenn sie wüssten, wie uns die Menschen hier behandeln, als wären wir Tiere oder Terroristen. Wenn sie wüssten, dass ich keine Arbeit habe, den ganzen Tag rumsitze, trübe Gedanken habe. Was denkst du, würde mein Vater sagen, was meine Mutter?

Klaus P: Irgendwann wirst du sie wiedersehen und sie werden sich freuen, freuen mit dir!

Zarar Ch: Im Jahr 2050 vielleicht Was machst du gerade?

Klaus P: Ich ärgere mich, weil ich ewig auf ein Visum für den Irak warten muss.

Zarar Ch: Aber du kannst immerhin reisen, Habibi

Klaus P: Jajajaja.

 

03.04.2018, 00:35

Zarar Ch: Was tust?

Klaus P: Schaue Netflix. Du?

Zarar Ch: Koche Reis.

Klaus P: Um diese Zeit?

Zarar Ch: Die richtige Zeit kommt niemals zur richtigen Zeit.

 

28.08.2018

Zarar Ch: Du warst wieder in Bosnien? Ich höre schlimme Geschichten, die kroatische Polizei sei noch brutaler als die ungarische? Habe noch immer keinen Job, es ist aussichtslos.

Klaus P: Habe ich dir von Abdullah und Samira, seiner Grossmutter, erzählt? Sie sind seit 2018 in Bosnien, kommen nicht weiter. Jetzt ist Samira nach Pakistan zurückgekehrt. Denkst du manchmal daran, nach Hause zu gehen?

Zarar Ch: Unmöglich. Was sollte ich denn meinen Eltern sagen? Meinen Schwestern, den Verwandten, all den Freunden? Sie denken doch, es gehe mir gut und alles sei bloss eine Frage von Tagen oder Wochen, bis ich Arbeit finde, Geld verdiene, Ansehen habe. Ich überlege mir ernsthaft, weiterzuziehen.

Klaus P: Habibi, wohin?

Zarar Ch: Nach Kanada. Keiner will in Europa bleiben.

Klaus P: Als wir uns das erste Mal in Serbien begegneten, war Europa für dich wie ein gelobtes Land. Das waren deine Worte: ein gelobtes Land.

Zarar Ch: Ich wusste ja nicht, wie es hier wirklich ist. Dieser Rassismus überall, man behandelt uns ohne Respekt, verurteilt uns wegen der Hautfarbe. Natürlich sind nicht alle so. Aber doch, viele sind so. Es ist sehr, sehr schwierig, Kontakte aufzubauen, Freundschaften zu schliessen. Wir sind allein hier. Aber lass uns später darüber reden.

 

03.10.2018

Zarar Ch: Klaus!

Klaus P: Was ist los?

Zarar Ch: Heute habe ich meine Aufenthaltsbewilligung bekommen, jetzt kann ich mich auf die Suche nach Arbeit machen!

Klaus P: Yallah!

Zarar Ch: Ich bin sehr glücklich! Wir müssen uns unbedingt wieder sehen. Schon bald!

 

05.08.2019

Zarar Ch: Ich habe eine Wohnung gefunden, vorübergehend, ein italienisches Paar vermietet Zimmer an uns, wir sind vier Pakistani. Es ist sehr schwierig, etwas zu finden. Bist du Flüchtling und siehst aus wie wir, hast du kaum Chancen. Wo bist du?

Klaus P: In Bosnien, an der Grenze.

Zarar Ch: Eines Tages möchte ich zurück nach Serbien, möchte all die Orte wiedersehen, wo ich war.

Klaus P: Lass uns zusammen hingehen!

 

10.08.2019, 21:50

Zarar Ch: Eid Mubarak, Habibi.

Klaus P: Eid Mubarak, Habibi.

 

26.08.2019, 17:20

Zarar Ch: In drei Tagen fange ich eine Arbeit an, endlich! Und doch, mir ist so schwer.

Klaus P: Wunderbar, was für ein Job ist das? Und wieso bist du unglücklich?

Zarar Ch: Sag zuerst: Wie geht es dir, bist du glücklich?

Klaus P: Alles gut hier, habe viel zu tun. Glücklich? Du stellst aber Fragen!

Zarar Ch: Ich habe niemanden hier, dem ich mich öffnen kann, alles fresse ich in mich hinein, lächle dabei. Meine Gedanken sind dunkel, meine Gefühle reissen mich mal in diese, mal in die andere Richtung. Ich schlafe schlecht, bin unruhig. Ich versuche, meine Eltern nicht anzulügen, darum erzähle ich ihnen so wenig wie möglich von diesem Leben hier. Das ist nicht gut, mein schlechtes Gewissen, irgendwann wird es mich erdrücken.

Klaus P: Wir sollten wieder einmal telefonieren. Jetzt?

 

24.10.2019, 22:43

Zarar Ch: Die Arbeit auf den Feldern ist nicht ohne, 5 Tage die Woche, 10 Stunden am Tag, 5 Euro pro Stunde, Essen müssen wir selber mitbringen. Kein Italiener würde diese Arbeit machen. Also nehmen sie uns Flüchtlinge, sie sagen: Wir brauchen euch! Dabei werden wir herumkommandiert, kein freundliches Wort, nur Geschrei und Gebell. Ganz ehrlich, so einen Umgang gibt es bei uns, in unserer Kultur, nicht. Ich verstehe einfach nicht, warum es hier so viel Diskriminierung und Rassismus gibt. Ich weiss wirklich nicht: Wollt ihr uns, oder wollt ihr uns nicht? Was nehmen wir euch denn weg?

Klaus P: Erinnerst du dich, in einem unserer ersten Gespräche in Subotica, da sagtest du: «Ihr gebt uns Essen, bringt uns Decken. Gleichzeitig schiesst ihr auf uns. Wer versteht so was?»

 

21.12.2019, 22:16

Zarar Ch: Ich muss weg hier.

Klaus P: Wohin?

Zarar Ch: Rate mal.

Klaus P: Kanada.

Zarar Ch: 

 

11.01.2020

Zarar Ch: Ich sehne mich so sehr nach Serbien, ich vermisse diese Zeit, damals, als wir auf der Flucht waren. Es waren harte Zeiten, wirklich, aber es waren auch gute Zeiten. Ich habe dir nie erzählt, wie die Wohnung hier ist. Schau dir mal dieses Video an.

Klaus P: Unglaublich. Funktioniert die Toilette überhaupt? Das Spülbecken in der Küche? Alles versifft, welch eine Scheisse. Was bezahlst du dafür?

Zarar Ch: 130 im Monat. Schlimm, ja. Aber besser als nichts. Bin sowieso meistens am Arbeiten.

 

09.02.2020, 20:23

Klaus P: Hey, habe nachgedacht: Ja, lass uns gemeinsam zurück nach Serbien gehen, an all die Orte, wir treffen Leute, denen wir schon 2017 begegnet sind, Tibor, Zuzana, Christof, etc., die Flucht, dein Nicht-Ankommen in Italien – und deine Familie daheim, das ganze Programm. Dazu müssten wir aber wieder von vorne beginnen, ich müsste alle Details kennen. Alle  Wäre also richtig viel Arbeit. Und dann Pakistan: Wir hatten ja schon darüber geredet, dass ich hinfliege, deine Familie treffe. Was meinst?

Zarar Ch: Mann, du weisst, wie ich darüber denke!

Klaus P: Gut, dann machen wir das. Ich muss Geld auftreiben, wir brauchen einen guten Plan.

Zarar Ch: Und du sprichst alle Wahrheiten aus, auch die unangenehmen? Der Rassismus hier in Europa, ich möchte darüber reden können.

Klaus P: Du wirst über alles reden können.

Zarar Ch: 

 

27.04.2020, 20:39

Zarar Ch: Habe meinen Job in der Fabrik wegen Corona verloren. Mein Bruder arbeitet wenigstens noch an den Wochenenden im Restaurant in Bologna. Er schickt mir ein paar Euro, Gottseidank.

 

06.10.2020, 21:19

Zarar Ch: Endlich Arbeit gefunden, in einer Schokoladenfabrik. Wir schuften und schuften, wenig Lohn, aber will nicht klagen. Was tust du?

Klaus P: Schreibe an einem Artikel über sog. Migrationskrise. Ich komme nach Italien, wann passt es dir?

 

07.10.2020, 11:51

Klaus P: Happy Birthday, alter Knochen.

Zarar Ch: Hey Mann mit weissem Bart, ich bin erst 27!

Klaus P: Als wir uns kennenlernten, warst du 23 und hattest Flaum um dein Kinn  Wann hast denn endlich eine Freundin?

Zarar Ch: Du klingst wie meine Mutter!

 

24.12.2020, 17:21

Zarar Ch: Bin gerade im Zug nach Verona an eine Weihnachtsfeier.

Klaus P: Feierst du die Geburt des höchsten Propheten? 

Zarar Ch: Ihr Christen habt einfach die schöneren Feste.

 

10.05.2021, 20:17

Zarar Ch: Den Job verloren, fuck Corona. Und es ist Ramadan und ich habe noch keinen Tag gefastet. Du?

 

15.10.2021, 18:09

Klaus P: Schau mal, ich stelle gerade Bilder zusammen, auf diesem bist du zu sehen, das war irgendwo im «Dschungel» an der ungarischen Grenze, Februar 2017, du wurdest Tage zuvor von der ungarischen Grenzpolizei verprügelt.

Zarar Ch: Das bin ich, ja! Ich träume oft von dieser Zeit. Wache schweissgebadet auf. Und trotzdem vermisse ich sie.

 

20.12.2022, 21:58

Zarar Ch: Ich habe gerade eine richtig gute Zeit. Es ist gut, wie es ist. Ich kann schlafen, habe ein zwei richtig gute Freunde hier. Jetzt muss ich nur noch einen besseren Job kriegen, muss mehr Geld verdienen, will meine Eltern stolz machen. Das ist das Wichtigste.

 

12.03.2023, 11:36

Zarar Ch: Mein lieber Klaus, wie geht es dir? Hier ok, so im Allgemeinen. Habe Arbeit, immer noch in derselben Fabrik, aber jetzt ohne festen Arbeitsvertrag. Warum? Keine Ahnung. Es waren Leute von einer Gewerkschaft hier, die wollen uns helfen, aber ich weiss nicht recht, habe Angst, den Job zu verlieren. Brauche eine neue Wohnung, die alte ist zu schmutzig. Aber wird schwierig, wir sind auf ewig die Flüchtlinge. Der Rassismus hier ist unerträglich. Aber ja. Sag, wann kommst du nach Verona? Du hast es versprochen.

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