Verlorene Kindheiten

Menschen mit einem negativen Asylentscheid leben in der Schweiz prekär. Besonders Kinder, wie eine Studie zeigt. Eine Jugendliche, eine Mutter, eine Psychotherapeutin und eine Vertreterin des Kantons Bern diskutieren, wie ihre Situation verbessert werden könnte.

17.04.2025Lea StuberFOTO: JONATHAN LIECHTI

Claudia Ransberger kommt als Erste ins Surprise-Büro Bern. Sie, die hier den Kanton Bern vertritt, packt ein Mäppli aus ihrer Tasche, darin Zeitungsartikel zu Kindern in der Nothilfe sowie die im September 2024 erschienene Studie im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission. Dann treffen Sandra Rumpel und Nadira Edris (Name geändert) ein. Die Psychotherapeutin und die 28-Jährige, die zehn Jahre in der Nothilfe gelebt hat, sind beide aus Zürich angereist. Ketevan Kobiashvili, die vierte, hätte an diesem Nachmittag Pädagogik und Persönlichkeitsentwicklung, sie hat sich in der Schule entschuldigt.

CLAUDIA RANSBERGER leitet beim Migrationsdienst des Kantons Bern den Bereich Nothilfe und Rückkehr, der zur Sicherheitsdirektion von Regierungsrat Philippe Müller (FDP) gehört. Foto: Jonathan Liechti

Bis Menschen mit einem negativen Asylentscheid die Schweiz verlassen oder ausgeschafft werden, leben sie in der Nothilfe. Schon länger ist bekannt, dass die Zustände in den sogenannten Rückkehrzentren speziell für Kinder und Jugendliche besorgniserregend sind. Die Studie des Marie Meierhofer Institut für das Kind, die Ransberger im Mäppli dabeihat, kommt sogar – für Fachleute nicht überraschend – zum Schluss: Die Situation in der Nothilfe gefährdet die Gesundheit und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, alle sind mindestens einem unzumutbaren Umstand ausgesetzt. Würden Kinder ausser­ halb der Nothilfe so leben, schreiben die Autorinnen, würde dies «mit hoher Wahrscheinlichkeit» zu einer Meldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) führen (siehe Seite 20). Laut dem begleitenden Rechtsgutachten der Universität Neuenburg ist die Situation weder mit der Bundesverfassung noch mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar.

Nur die Hälfte der Kantone ermöglicht gemäss Studie nach dem obligatorischen neunten Schuljahr den Zugang zu weiterer Ausbildung. Eine Lehre etwa ist nur dann möglich, wenn die Jugendlichen eine Ausnahmebewilligung beantragen können. Dafür haben zum Beispiel die Kantone Freiburg und Waadt Pilotprojekte eingeführt.

2020 lebten schweizweit 700 Kinder und Jugendliche von der Nothilfe, 390 – also mehr als die Hälfte – seit über einem Jahr, obwohl sie eine vorübergehende Lösung für wenige Monate sein sollte. Bern und Zürich, wo Ketevan Kobiashvili und Nadira Edris leben, sind zwei der Kantone, in denen die meisten Minderjährigen in der Nothilfe sind. Die beiden jungen Frauen setzen sich mit Sandra Rumpel und Claudia Ransberger um den Tisch – eine Jugendliche, eine Mutter, eine Psychotherapeutin und eine Vertreterin des Kantons Bern. Nach dem Gespräch gibt Ransberger Kobiashvili ihre Visitenkarte, sie schlägt ein Treffen vor, um über ein eigenes Härtefallgesuch, losgelöst von der Familie, zu sprechen.

KETEVAN KOBIASHVILI, 18, ist vor bald acht Jahren mit ihren Eltern aus Georgien in die Schweiz geflüchtet. Sie lebt im Kanton Bern im Rückkehrzentrum Aarwangen. Inzwischen hat sie ein eigenes Zimmer, ihre Eltern und ihr fünfjähriger Bruder teilen sich eines. Sie besucht die Fachmittelschule in Langenthal. Ein erstes Härtefallgesuch für die Familie wurde abgelehnt, das zweite ist seit einem Jahr hängig. Foto: Jonathan Liechti

Ketevan Kobiashvili, haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie es wäre, einfach ein Schweizer Kind zu sein, ohne Erfahrung mit der Nothilfe?

Ketevan Kobiashvili: Ja, schon öfter. Wenn ich mich um sechs Uhr morgens für die Schule bereit mache, begegne ich im Korridor manchmal einer Gruppe Polizist*innen, die gekommen sind, um eine andere Familie zu deportieren. Ich weiss nie, ob morgen ich dran bin. Jeder Tag ist stressig. Und ich kann im Rückkehrzentrum nicht wirklich lernen, manchmal ist es einfach zu laut.

Nadira Edris: Ja, der Stress! In unserem Zimmer hatte mein Sohn keinen Platz zum Spielen, gegessen haben wir auf dem Bett. Mein Sohn hat kaum gegessen, er hat lange nicht gesprochen. Wenn wir vom Spazieren zurückkamen, legte er sich vor dem Camp auf den Boden und weinte – er wollte nicht zurück in dieses Camp.

NADIRA EDRIS, 28, ist vor zehn Jahren alleine aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Seit einem Jahr lebt sie mit ihrem fünfjährigen Sohn in einer Wohnung im Kanton Zürich, sie ist alleinerziehend. Zuvor lebte sie im Rückkehrzentrum Hinteregg. Im Oktober wurde ihr Härtefallgesuch bewilligt, seither hat sie eine Aufenthaltsbewilligung. Sie möchte anonym bleiben, Nadira Edris ist ein Pseudonym. Foto: Jonathan Liechti

Kobiashvili: Während den drei Wochen Herbstferien war ich auf einmal nicht mehr sicher, ob ich die Fachmittelschule weiterhin besuchen darf. Zum Glück hat unsere Anwältin dann dafür gesorgt, dass ich wieder zur Schule gehen durfte. Ich habe mir immer vorgestellt, wie die Polizei in die Schule kommt und mich einfach deportiert. Ein paar Freundinnen sagten mir, ich sei so gestresst, das habe zu grosse Effekte auf sie. Ich habe sie als Freundinnen verloren. Ich glaube, als Schweizer Kind wäre es viel einfacher.

Claudia Ransberger: Ich kann verstehen, dass es für Sie als junge Frau sehr schwierig ist. Nichtsdestotrotz: Die Politik hat entschieden, und wir müssen den Auftrag umsetzen. Mir ist wichtig, dass es den Kindern und Jugendlichen gut geht. Wir haben zum Beispiel getrennte Unterkünfte, Familien leben in anderen Zentren als Männer. Aber natürlich bleibt es eine Herausforderung, Küche, Toiletten und Duschen mit anderen Familien zu teilen.

Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind be­trächtlich, Schaffhausen etwa mietet für Menschen in der Nothilfe Wohnungen. Wäre das auch für Bern eine Option?

Ransberger: Nein, der Grosse Rat (Anm. das kantonale Parlament) hat entschieden, dass Personen in der Nothilfe in Kollektivunterkünften untergebracht werden. Das wäre eine politische Richtungsänderung. Nur vulnerable Personen oder Familien dürfen in Ausnahmefällen in einer Wohnung leben.

Kobiashvili: Wer gilt denn als vulnerabel? Ransberger: Etwa ein Kind, das schwerstbehindert zur Welt kommt und in der Nähe des Berner Inselspitals sein muss, weil es eine regelmässige medizinische Betreuung braucht. Jemand im Rollstuhl, denn die Unterkünfte sind nicht barrierefrei. Oder schwerkranke Menschen, die Krebs im Endstadium haben. Aber eine Familie mit Kindern ist nicht per se vulnerabel.

Sandra Rumpel: Doch, genau dafür plädiere ich. Ich weiss nicht, für wie lange die Nothilfe ursprünglich gedacht wurde, aber ich finde: Spätestens nach drei Monaten sollten die Kinder wieder weg sein.

SANDRA RUMPEL ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Geschäftsleiterin des Vereins Family-Help. Das 30-köpfige Team von Ärzt*innen und Therapeut*innen behandelte im Kanton Zürich im vergangenen Jahr 225 Kinder und Jugendliche aus dem Asylbereich, etwa 15 Prozent beziehen Nothilfe. Foto: Jonathan Liechti

Ransberger: Das ist ein politischer Entscheid.

Rumpel: Nein, ich spreche nur aus fachlicher Sicht.

Kobiashvili: Ich bin auch mit Männern aufgewachsen und das war wirklich schwierig, es gab oft Konflikte. Ich finde gut, dass die Männer jetzt getrennt von den Familien leben. Meine Cousinen leben in Lausanne und sie haben schon nach einem Monat eine Wohnung bekommen – auch sie hatten keine Bewilligung. Warum das in jedem Kanton anders ist, kann ich nicht ganz nachvollziehen.

Ransberger: Das verstehe ich. Aber so ist das System in der Schweiz.

Rumpel: Die Schweiz hat ja auch die UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Inzwischen sehen wir einfach die Langzeitfolgen, die Kinder aus der Nothilfe mitbringen. Für Erwachsene ist es während ein, zwei Jahren aushaltbar, unter sehr schwierigen Umständen leben zu müssen. Danach können sie das durch Therapie oder gute Umstände ein Stück weit wettmachen.

Wie ist es bei den Kindern und Jugendlichen, welche Langzeitfolgen sehen Sie?

Rumpel: Das Kleinkindalter und das Jugendalter sind kritische Entwicklungsphasen. Kinder in der Nothilfe erleben eine Kumulation von unzumutbaren Umständen. Nur schon die regelmässigen Polizeieinsätze und die Angst in den Augen der Eltern, die sie in diesem Moment nicht trösten können – diese Erlebnisse hindern Kinder an einer gesunden Entwicklung. Bei Kleinkindern unter drei Jahren führt das dazu, dass ihr Immunsystem schwächer ausgebaut wird, dass sie eher Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln. Ich spreche also nicht nur von Verhaltensauffälligkeiten, selbstschädigendem Verhalten, von Entwicklungsstörungen und schweren psychischen Erkrankungen. Deshalb appelliere ich an die Politik. Schon nur wirtschaftlich gedacht: Das ist extrem teuer.

Ransberger: Die politischen Fragen können wir hier nicht klären, das ist nicht meine Aufgabe, ich vertrete die Verwaltung.

Rumpel: In Zürich bekommen wir oft nicht einmal eine Antwort vom Kanton oder der KESB. Wir beschreiben, dass der Zustand eines Kindes sich verschlechtert aufgrund der Situation im Camp. Drei Monate später schreiben wir wieder, und ein Jahr später wieder. Keine Antwort, oder höchstens eine ausweichende. Am Ende sind wir es, die versuchen, die Kinder zu stabilisieren. Und am nächsten Tag rufen die Eltern weinend an, weil in der Nacht die Freundin des Kindes ausgeschafft wurde. Bei Ausschaffungen schreien die Menschen oft, die Kinder sehen, wie andere Eltern in Handschellen gelegt werden. Es ist schon vorgekommen, dass ein Elternteil sich suizidieren wollte. Stellen wir uns vor, in einer Schule klettert jemand aufs Dach und will Suizid begehen. Da wird ein Care-Team aufgeboten, die Schulleitung wird hinterfragt: Wie konnte das passieren? Die Schüler*innen und Eltern werden aufgefangen. Keinem Schweizer Kind würden wir eine solche Situation jeden Tag zumuten. Die Schweiz hat einen Zwei-Klassen-Kinderschutz.

Ransberger: Personen, die in einem Rückkehrzentrum untergebracht sind, haben einen rechtskräftigen Wegweisungsentscheid. Sie haben ein Asylverfahren durchlaufen, sind weggewiesen und aufgefordert worden, die Schweiz zu verlassen. Die Polizei packt die Familie nicht am nächsten Tag ein. Da gibt es im Vorfeld Gespräche. In einem Rückkehrzentrum muss man damit rechnen, dass die Polizei kommt und eine polizeiliche Rückführung durchführt. Die Eltern wissen das.

Rumpel: Nadira, haben Sie darüber nachgedacht, nach Eritrea zurückzukehren?

Edris: Einmal im Jahr wurde ich zu einem Gespräch eingeladen, um über meine Rückkehr zu sprechen. Ich wäre nie zurückgegangen. Ich wäre dort ziemlich sicher ins Gefängnis gekommen oder in den Militärdienst eingezogen worden. Es war sehr schlimm in Eritrea.

Ketevan Kobiashvili, Sie waren zehn Jahre alt, als Sie erfuhren, dass Ihre Eltern nicht in der Schweiz bleiben dürften?

Kobiashvili: Meine Eltern haben mir einfach gesagt: Wir können nicht zurück nach Georgien, wir müssen hierbleiben. Und inzwischen hätte ich dort nichts mehr. Ich bin hier aufgewachsen, mache eine Ausbildung, habe Freundinnen hier.

Rumpel: Man darf Kinder nicht für die Entscheidung ihrer Eltern bestrafen. Aber genau das passiert hierzulande – und nicht zum ersten Mal, denken wir an die Kinder von Saisonniers, die nicht in die Schweiz kommen durften. Oder an die Kindswegnahmen bei den Jenischen. Auch wenn wir – politisch gewollt – Druck auf die Eltern ausüben, müssen wir die Kinder im Blick behalten. Ein Kind muss nicht verhätschelt werden, auf Schweizerdeutsch gesagt. Aber es braucht immer wieder Möglichkeiten zur Regulation. Mit Ruhe, mit Privatsphäre. Ein Umfeld, das ihm Sicherheit gibt und es zu trösten vermag. Es kann nicht sein, dass pubertierende Mädchen die Toilette und die Dusche mit zig anderen Leuten teilen, wo Männer vielleicht noch reinschauen können. Im ehemaligen Rückkehrzentrum Adliswil mussten die Kinder eine Zeit lang ausserhalb des Gebäudes aufs WC. Auch Familienväter können übergriffig werden.

Edris: Wenn zum Beispiel die Küche nicht aufgeräumt war, habe ich versucht, mich zu wehren.

Kobiashvili: Oder wenn die Duschen und Toiletten schmutzig sind. Das Einzige, was mir hilft: so wenig wie möglich im Zentrum sein. Nach der Schule gehe ich zum Lernen in die Bibliothek oder mit Freundinnen spazieren.

Ransberger: Hier finde ich die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen wichtig. Sie unterstützen bei Kindergeburtstagen, an Weihnachten oder Ostern. Damit die Kinder ein Osternest bekommen und ein Stück Normalität haben.

Rumpel: Dass in Kollektivunterkünften Aggressionen entstehen, ist logisch. Wer Stress hat, ist strenger. Stellen Sie sich vor, Sie rennen mit Ihren Kindern auf den Zug. Und die beeilen sich nicht. In dieser alltäglichen Stresssituation werden Sie auch schärfer mit ihnen reden. Geschweige denn Sie fühlen sich permanent bedroht.

Ransberger: Ob es Konflikte in der Küche gibt oder mit der Waschmaschine, kommt auch auf die Betreuung an. Das kann man steuern: Macht man wöchentlich eine Bewohner*innensitzung? Macht man einen Waschplan? Ist zu den Stosszeiten, wenn gekocht wird, genügend Personal da?

Rumpel: Ja, das ist wichtig. Und Freizeitangebote. So können die Kinder immer wieder Stress abbauen. Aber das ist eine zu mathematische Sicht auf die kindliche Entwicklung: Ich gebe etwas Gutes und dann erträgt es etwas Schlechtes – und dann kann ich das wieder ausgleichen mit einer guten Freizeitbeschäftigung. Gerade wenn Belastungen chronisch werden und mit Gewalt, Trennung und Bedrohung einhergehen, funktioniert dieser Effekt nicht.

Ransberger: Was wäre die Lösung?

Rumpel: Privatsphäre wäre wichtig. Wenn fünf Kinder und zwei Erwachsene ein Zimmer teilen, können sie sich nicht zurückziehen. Weiter brauchen Kinder Kontinuität. Die vielen Transfers von einer Unterkunft zur nächsten gehen nicht. Als dritten Punkt sehe ich kleinere Unterkünfte – oder noch besser kleine Wohnungen. So gäbe es weniger Stress und man ginge verständnisvoller miteinander um.

Ransberger: Eine Unterkunft zu finden, ist schwierig. Alle finden es gut, aber niemand will eine Unterkunft in der eigenen Gemeinde oder Nachbarschaft. Dann müssen die Objekte eine gewisse Infrastruktur bieten: genügend sanitäre Anlagen, grosse Küchen etc.

Rumpel: Es ist nun mal so: Je grösser die Unterkunft, desto mehr Polizeieinsätze. Und desto mehr Menschen sehen, wie andere ausgeschafft werden. Wenn die Polizei einen Mann abholen und in Administrativhaft nehmen will, er aber das jüngste Kind bei sich hat, weil die Mutter die älteren in die Schule bringt, sollten die Polizist*innen das Kleinkind nicht einfach einer Freundin der Familie übergeben und den Vater mitnehmen. Auch wenn die Mutter nach kurzer Zeit wieder da ist und auch wenn der Vater nach drei Tagen aus der Administrativhaft zurückkehrt, weiss dieses Kleinkind von nun an: Hier kann jederzeit jemand kommen und meinen Papi oder mein Mami mitnehmen. Auch die Kinder, die diese Szene nur beobachten. Das ist für Kleinkinder beängstigend. Die Polizei sollte Kleinkinder nicht von ihren Eltern trennen, ausser die Eltern selbst stellen die Bedrohung dar.

Ketevan Kobiashvili, wenn Sie einen kleinen Wunsch frei hätten, um Ihre Situation zumindest ein Stück weit zu verbessern, wie würde der lauten?

Kobiashvili: Es ist ein bisschen unrealistisch, aber ich wünschte mir ein normales Leben. Ich weiss nicht, ob es etwas Kleines gibt, das mir helfen würde.

Ransberger: Was wäre für Sie ein normales Leben?

Kobiashvili: Wenn meine Eltern arbeiten könnten, wie sie wollen. Wenn ich mich auf meine Ausbildung konzentrieren könnte und nicht dauergestresst wäre.

Rumpel: Sie müssten die Sicherheit haben, dass nicht jeden Tag etwas Schlimmes passiert. Anhaltende Angst ist für das Nervensystem belastend. Diese Kinder haben ihr Leben lang einen erhöhten Cortisolspiegel, sie können Stress schlecht regulieren. Wir erkennen am Nervensystem des Kindes seinen Asylstatus. Wenn sie später, als Erwachsene, «nur» den Zug verpassen, reagieren sie gereizter als jemand ohne diese schlimmen Erfahrungen, so als wäre gerade wieder etwas sehr Schlimmes passiert. Darum wäre es für die Kinder so wichtig, eine Zukunftsperspektive zu haben, zu wissen: Ich kann diese Ausbildung fertig machen. Das bringt Ruhe in den Körper und die Psyche.

Nadira Edris, Sie durften zehn Jahre lang keine Ausbildung machen.

Edris: Ja, ich hatte keine Chance. Deutsch habe ich mir selber beigebracht. Ich musste den ganzen Tag im Camp bleiben. Dabei möchte ich selbständig sein, eine Lehre machen, am liebsten in der Pflege. Aber manchmal habe ich Angst davor, eine Lehre anzufangen. Wie soll ich auf einmal lernen können? Mir fehlt das Selbstvertrauen dafür.

Rumpel: Bei vielen Jugendlichen mit einer ähnlichen Geschichte beobachten wir, dass die Integration länger dauert. Nicht, weil sie nicht motiviert sind, sondern weil sie an sich zweifeln. Wenn Jugendliche eine Beschäftigung haben und eine Zukunft sehen, brauchen sie vielleicht auch eine Therapie, aber die wirkt dann. Wenn sie keine Zukunft sehen, arbeiten wir nur daran, dass sie nicht aus Sinnlosigkeit von einer Brücke springen. Und solange der Mensch nicht in Sicherheit lebt, sondern in der ständigen Angst, ausgeschafft zu werden, können wir keine Traumatherapie machen. Sonst wird das Gehirn völlig konfus.

Mit 18 macht man sich viele Gedanken über die Zukunft. Wo will ich im Leben hin, was will ich alles machen? Ketevan Kobiashvili, wie ist das bei Ihnen?

Kobiashvili: Gedanken über die Zukunft habe ich mir nie machen können, mein Leben war nie stabil. Ich weiss nicht, was morgen passieren wird. Ich versuche so wenig wie möglich über die Zukunft nachzudenken. Für die nahe Zukunft hoffe ich einfach, dass ich meine Ausbildung fertig machen kann. Und dass ich hierbleiben darf.

Rumpel: Wenn wir Hoffnung haben, bleiben wir neugierig, mögen lernen, blicken in die Zukunft. Kinder mit diesen chronischen Verläufen können die Hoffnung oft nicht mehr aufrechterhalten. Vor allem im Jugendalter. Kleinkinder sind von Natur aus neugierig. Beim Spielen entdecken und lernen sie viel. Ein Beispiel: Ein Kind, vielleicht eineinhalb, spielt bei uns mit Klötzli. Auf einmal ertönt die Sirene eines Polizeiautos. Das Kind zuckt zusammen und rennt zum Fenster, die nächste Stunde kann es sich nicht mehr konzentrieren. Wenn das laufend passiert, lernt dieses Kind weniger. Der Stress absorbiert seine Lernfähigkeit.

Kobiashvili: Ich war ein verschlossenes Kind, das im Asylzentrum kaum mit anderen spielen wollte. In einem fremden Land sein, die Sprache nicht können, keine Freundin haben – es dauerte lange, bis ich mich integrieren konnte.

Ransberger: Leben noch andere Jugendliche im Zentrum in Aarwangen?

Kobiashvili: Nein, im Moment nicht. Als andere Jugendliche da lebten, hatten wir ein wenig Kontakt. Dann wurden sie entweder deportiert oder bekamen eine Aufenthaltsbewilligung. Niemand ist so lange dort wie ich.

Ransberger: Und Ihre Freundinnen aus der Schule, war mal eine zu Besuch?

Kobiashvili: Einmal. Aber wir haben nicht wirklich Platz. Lange habe ich mich auch geschämt, dass ich dort wohne. Ich wollte nicht, dass das andere wissen.

Edris: Alle meine Freundinnen haben eine Lehre gemacht und arbeiten jetzt. Warum ich nicht? Zehn Jahre sass ich nur herum, zehn Jahre sind einfach verloren.

Kobiashvili: Ich gehe seit acht Jahren in Therapie, denn ich habe in Georgien traumatische Dinge erlebt. Doch wie kann mir die Therapie überhaupt helfen, dass es mir psychisch besser geht, wenn sich bis heute nichts verändert hat? Wenn ich bis heute jeden Tag Traumata erlebe? Es fühlt sich an wie Zeitverschwendung.

«Ich versuche so wenig wie möglich über die Zukunft nachzudenken.»
KETEVAN KOBIASHVILI, 18, ist vor bald acht Jahren mit ihren Eltern aus Georgien in die Schweiz geflüchtet. Sie lebt im Kanton Bern im Rückkehrzentrum Aarwangen. Inzwischen hat sie ein eigenes Zimmer, ihre Eltern und ihr fünfjähriger Bruder teilen sich eines. Sie besucht die Fachmittelschule in Langenthal. Ein erstes Härtefallgesuch für die Familie wurde abgelehnt, das zweite ist seit einem Jahr hängig.

«In einem Rückkehrzentrum muss man damit rechnen, dass die Polizei kommt.
CLAUDIA RANSBERGER leitet beim Migrationsdienst des Kantons Bern den Bereich Nothilfe und Rückkehr, der zur Sicherheitsdirektion von Regierungsrat Philippe Müller (FDP) gehört. Die Eltern wissen das.»

«Alle meine Freundinnen haben eine Lehre gemacht und arbeiten jetzt. Warum ich nicht?»
NADIRA EDRIS, 28, ist vor zehn Jahren alleine aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Seit einem Jahr lebt sie mit ihrem fünfjährigen Sohn in einer Wohnung im Kanton Zürich, sie ist alleinerziehend. Zuvor lebte sie im Rückkehrzentrum Hinteregg. Im Oktober wurde ihr Härtefallgesuch bewilligt, seither hat sie eine Aufenthaltsbewilligung. Sie möchte anonym bleiben, Nadira Edris ist ein Pseudonym.

«Die Schweiz hat einen ZweiKlassenKinderschutz.»
SANDRA RUMPEL ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Geschäftsleiterin des Vereins Family-Help. Das 30köpfige Team von Ärzt*innen und Therapeut*innen behandelte im Kanton Zürich im vergangenen Jahr 225 Kinder und Jugendliche aus dem Asylbereich, etwa 15 Prozent beziehen Nothilfe.

Besserung in Sicht?

Nach einer Studie über die Situation von Kindern in der Nothilfe wurden in mehreren Kantonen Vorstösse eingereicht.

Im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission hat das Marie Meierhofer Institut die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe systematisch untersucht. Die Autorinnen sehen dringenden Handlungsbedarf bezüglich der psychischen und physischen Gesundheit, der Unterbringung, Beschulung und sozialen Teilhabe. Als Reaktion auf die Studie hat das Solinetz Zürich, das sich für die Rechte geflüchteter Menschen einsetzt, zusammen mit vierzehn weiteren Organisationen (darunter Family-Help) im Oktober einen offenen Brief an den Zürcher Regierungsrat Mario Fehr (parteilos) geschrieben. Darin fordern sie den Kanton Zürich auf, die Handlungsempfehlungen der Studie umzusetzen, zum Beispiel familiengerechte Unterkünfte mit Rückzugs- und Lernmöglichkeiten oder einen besseren Zugang zur Volksschule und Berufsbildung. Eine Antwort haben sie nicht erhalten.

Die Kinderrechtsorganisation Save the Children arbeitet in mehreren Kantonen in Unterkünften, in denen Kinder in der Nothilfe leben. Ihre Erfahrungen decken sich mit den Ergebnissen der Studie. Weder würden derzeit die Kinderrechte eingehalten, noch sei das Kindeswohl sichergestellt, schreibt Save the Children in ihrer Stellungnahme. Nina Hössli, die Leiterin der Schweizer Programme, sagt: «Politik, Behörden, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft müssen jetzt handeln. Und langfristig müssen wir Wege finden, damit Kinder in der Schweiz nicht mehr so aufwachsen müssen.»

Im Kanton Bern verlangen Politiker*innen in drei Motionen für Kinder in der Nothilfe eine Verbesserung der Wohnsituation, altersgerechte Tagesstrukturen und eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Zudem soll der Regierungsrat prüfen, ob die Kinderrechte im Asyl- und Nothilfesystem generell eingehalten werden.

Bereits in Kraft sind zwei Neuerungen im Kanton Luzern, wie die Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen schreibt: Kinder im Vorschulalter haben neu Zugang zu Spielgruppen. Und Jugendliche bekommen nach der obligatorischen Volksschule Zugang zu vorbereitenden Angeboten für die berufliche Grundbildung, zu Integrationsbrückenangeboten sowie zur Berufslehre. Vorstösse für bessere Bedingungen für Kinder in der Nothilfe sind auch in den Kantonen Basel-Landschaft, Zürich, Schwyz, Thurgau, Waadt und Wallis eingereicht worden.

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